Eine Handvoll Worte
ab, ohne nachzudenken. Sie wartet zwei Minuten, aber es kommt keine Antwort. Nicht sicher, ob sie froh oder traurig sein soll, sinkt Ellie zurück auf ihre Kissen und schaut lange aus ihrem Fenster in den schwarzen Himmel, beobachtet die Flugzeuge, die lautlos blinkend durch die Dunkelheit unbekannte Ziele anfliegen.
Ich habe mir große Mühe gegeben, dir begreiflich zu machen, was ich auf der Fahrt von Padua nach Mailand empfunden habe, aber du hast dich wie ein verwöhntes Kind verhalten, und ich konnte dich nicht weiter verletzen. Jetzt habe ich nur den Mut dazu, weil ich weit weg bin. Dann – und glaube mir, wenn ich sage, dass es auch für mich plötzlich kommt – rechne ich damit, bald verheiratet zu sein.
Agnes von Kurowsky an Ernest Hemingway, per Brief
23
R ory spürt eine Hand auf der Schulter und zieht einen Kopfhörer aus dem Ohr.
»Tee.«
Er nickt, schaltet die Musik ab und steckt den MP3-Player in die Hosentasche. Die Lastwagen sind inzwischen fertig; nur die eigenen Lieferwagen der Zeitung sind verblieben und fahren mit vergessenen Kisten und kleineren, für das Überleben der Zeitung wichtigen Ladungen hin und her. Es ist Donnerstag. Am Sonntag werden die letzten Kisten gepackt, die letzten Becher und Teetassen abtransportiert sein. Am Montag wird die Nation ihr neues Leben in den neuen Büros beginnen, und dieses Gebäude wird zum Abriss freigegeben. In einem Jahr wird eine schillernde Konstruktion aus Glas und Stahl an seiner Stelle stehen.
Rory nimmt auf dem Rücksitz des Lieferwagens hinter seinem Chef Platz, der die alte schwarze Marmorfront des Gebäudes nachdenklich betrachtet. Das Symbol der Zeitung, eine Brieftaube, wird von einer Säule oben am Treppenaufgang entfernt.
»Eigenartiger Anblick, nicht wahr?«
Rory pustet in seinen Tee. »Bisschen komisch für Sie? Nach all der Zeit?«
»Eigentlich nicht. Alles hat schließlich ein Ende. Teilweise freue ich mich auch darauf, etwas anderes zu tun.«
Rory trinkt einen Schluck.
Nachgrübelnde Stille.
»Merkwürdig, wenn man seine Tage zwischen den Geschichten anderer Menschen verbringt. Ich habe das Gefühl, als wäre meins in einer Warteschleife gewesen.«
Es ist, als würde ein Bild sprechen. So unwahrscheinlich. Ausgesprochen fesselnd. Rory stellt seinen Tee ab und hört zu. »Sind Sie nicht versucht, selbst etwas zu schreiben?«
»Nein«, antwortet sein Chef abweisend. »Ich bin kein Schriftsteller.«
»Was werden Sie machen?«
»Das weiß ich nicht. Reisen vielleicht – kann sein, dass ich mit dem Rucksack verreise wie Sie.«
Bei dem Gedanken müssen sie beide lächeln. Sie haben monatelang fast schweigend zusammengearbeitet, kaum über etwas geredet, was über die praktischen Notwendigkeiten eines jeden Tages hinausging. Jetzt hat das nahe Ende ihrer Aufgabe sie redselig gemacht.
»Mein Sohn findet, ich sollte es tun.«
Rory kann seine Überraschung nicht verbergen. »Ich wusste nicht, dass Sie einen Sohn haben.«
»Und eine Schwiegertochter. Und drei sehr schlecht erzogene Enkelkinder.«
Rory stellt fest, dass er seinen Chef neu einschätzen muss. Er gehört zu den Menschen, die Einsamkeit ausstrahlen, und er hat Mühe, ihn sich als Mann mit Familie vorzustellen.
»Und Ihre Frau?«
»Sie ist vor langer Zeit gestorben.«
Er sagt es ohne Unbehagen, doch Rory ist dennoch verlegen, als hätte er eine Grenze überschritten. Wäre Ellie hier, denkt Rory, würde sie ihn rundweg fragen, was mit ihr passiert ist.
Ellie.
Wäre Ellie hier, hätte Rory sich in einen fernen Winkel der Bibliothek verzogen, statt mit ihr zu sprechen. Er blendet sie aus. Er will nicht an sie denken. Er will nicht an ihr Haar, ihr Lachen denken, an ihr Stirnrunzeln, wenn sie sich konzentriert. Wie sie sich unter seinen Händen angefühlt hat: ungewöhnlich nachgebend. Ungewöhnlich verletzlich.
»Und wann brechen Sie zu Ihrer Reise auf?«
Rory reißt sich aus seinen Gedanken und bekommt ein Buch in die Hand gedrückt, dann noch eins. Diese Bibliothek ist wie die Tardis: Wie aus dem Nichts tauchen Sachen auf. »Habe gestern gekündigt. Muss noch nach Flügen schauen.«
»Werden Sie Ihre Freundin vermissen?«
»Sie ist nicht meine Freundin.«
»Nur einen guten Eindruck machen, wie? Ich dachte, Sie mögen sie.«
»Das habe ich auch.«
»Ich dachte immer, Sie beide hätten einen guten Draht zueinander.«
»Ich auch.«
»Und, wo liegt das Problem?«
»Sie ist … komplizierter, als sie wirkt.«
Der ältere Mann lächelt ironisch. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher