Eine Handvoll Worte
habe noch nie eine Frau kennengelernt, die es nicht war.«
»Ja … ich mag keine Komplikationen.«
»Ein Leben ohne Komplikationen gibt es nicht, Rory. Am Ende schließen wir alle Kompromisse.«
»Ich nicht.«
Der Bibliothekar zieht eine Augenbraue hoch und schmunzelt.
»Was?«, sagt Rory. » Was ist? Sie werden doch jetzt kein Süßholz raspeln über verpasste Gelegenheiten, dass Sie wünschen, Sie hätten etwas anders gemacht, oder?« Seine Stimme ist lauter und bissiger, als er beabsichtigt hat, aber er kann nicht anders. Er beginnt, Kisten von einer Seite des Lieferwagens auf die andere zu schieben. »Es wäre ohnehin zwecklos. Ich gehe fort. Ich brauche keine Komplikationen.«
»Nein.«
Rory wirft ihm einen kurzen Seitenblick zu und bemerkt das schleichende Lächeln. »Jetzt werden Sie nicht sentimental. Ich muss Sie als einen miesepetrigen alten Kerl in Erinnerung behalten.«
Der miesepetrige alte Kerl lacht leise in sich hinein. »Das würde ich nicht wagen. Kommen Sie, wir werfen noch einen letzten prüfenden Blick auf den Mikrofilmbereich und packen das Teezeug ein. Dann lade ich Sie zum Lunch ein. Und dann können Sie mir nicht alles darüber erzählen, was zwischen Ihnen und dieser Frau vorgefallen ist, die Sie offensichtlich nicht im Geringsten interessiert.«
Der Bürgersteig vor Jennifer Stirlings Häuserblock wird von der Wintersonne hellgrau ausgebleicht. Ein Straßenkehrer zieht an der Bordsteinkante entlang, hebt geschickt mit einer Zange Abfälle auf. Ellie fragt sich, wann sie zum letzten Mal in ihrem Teil von London einen Straßenkehrer gesehen hat. Vielleicht wird es als Sisyphusarbeit betrachtet: Ihre Hauptstraße ist ein Durcheinander aus Imbissstuben und billigen Bäckereien, deren rot-weiß gestreifte Papiertüten fröhlich in der Gegend herumflattern und von einer weiteren mittäglichen Orgie aus gesättigten Fetten und Zucker künden.
»Ich bin’s, Ellie Haworth«, ruft sie in die Sprechanlage, als Jennifer sich meldet. »Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich …«
»Ellie.« Ihre Stimme klingt einladend. »Ich wollte gerade herunterkommen.«
Während der Aufzug gemächlich die Stockwerke hinuntergleitet, denkt Ellie an Melissa. Da sie nicht schlafen konnte, war sie kurz nach halb acht im Büro der Nation eingetroffen. Sie musste herausfinden, wie sie den Artikel über die Liebesbriefe noch retten konnte; nachdem sie Clives Mitteilungen an sie noch einmal gelesen hat, ist ihr klar geworden, dass sie auf keinen Fall in ihr früheres Leben zurückkehren kann. Sie wird diesen Artikel gut hinbekommen. Sie wird die restlichen Informationen von Jennifer Stirling erhalten und irgendwie umdrehen. Sie ist wieder sie selbst; konzentriert, entschlossen. Daran zu denken, wie verwirrend ihr Privatleben geworden ist, hilft nicht weiter.
Sie erschrak, als sie Melissa bereits im Büro erblickte. Ansonsten war die Feuilletonredaktion leer, bis auf eine stille Putzfrau, die lustlos einen Staubsauger zwischen den verbleibenden Schreibtischen hindurchschob, und Melissas Tür stand offen.
»Ich weiß, Schätzchen, aber Nina wird dich bringen.« Sie zwirbelte nervös eine leuchtende Haarsträhne in der Hand. Die Haare wanden sich um ihre schlanken Finger, beleuchtet von der niedrig stehenden Wintersonne, gezogen, gedreht, losgelassen.
»Nein, das habe ich dir Sonntagabend gesagt. Weißt du noch? Nina wird dich hinbringen und danach abholen … Ich weiß … ich weiß … aber Mummy muss arbeiten. Du weißt doch, dass ich arbeiten muss, Schätzchen …« Sie setzte sich und stützte kurz den Kopf in die Hand, sodass Ellie Mühe hatte, etwas zu hören.
»Ich weiß. Und ich komme nächstes Mal mit. Aber weißt du noch, ich habe dir doch erzählt, dass wir mit dem Büro umziehen? Und dass es sehr wichtig ist? Und Mummy kann nicht …«
Längeres Schweigen trat ein.
»Daisy, Liebes, kannst du mir Nina geben? … Ich weiß. Gib mir Nina nur kurz … Ja, ich spreche hinterher mit dir. Gib mir …« Sie schaute auf und sah Ellie vor dem Büro. Ellie wandte sich rasch ab, verlegen, dass man sie beim Lauschen ertappt hatte, und griff nach ihrem Telefon, als sei sie mit einem ähnlich wichtigen Anruf beschäftigt. Als sie wieder aufschaute, war Melissas Bürotür geschlossen. Aus der Entfernung war schwer zu sagen, ob sie weinte, aber es hätte sein können.
»Na, das ist ja eine nette Überraschung.« Jennifer Stirling trägt eine glatte Leinenbluse über
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