Eine Handvoll Worte
sie zwischen sich und Laurence eine Distanz spürte. Sie war Folge der Tatsache, dass sie sich in einen anderen verliebt hatte. Das waren leidenschaftliche Briefe: dieser Mann hatte sich ihr in einer Weise geöffnet, wie Laurence es niemals könnte. Wenn sie seine Notizen las, kribbelte ihre Haut, ihr Herz raste. Sie erkannte diese Worte. Trotzdem klaffte ein großes Loch in ihrem Kern.
Fragen über Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Hatte die Affäre schon lange bestanden? Oder erst seit Kurzem? Hatte sie mit diesem Mann geschlafen? Fühlte sich der Körperkontakt mit ihrem Ex-Mann deshalb so gekünstelt an?
Und das Unbegreiflichste überhaupt: Wer war dieser Lieb-haber?
Sie hatte die drei Briefe akribisch durchgesehen und nach Hinweisen gesucht. Ihr fiel niemand unter ihren Bekannten ein, dessen Name mit B anfing, bis auf Bill, oder der Buchhalter ihres Mannes, Bernard. Sie wusste ohne den leisesten Zweifel, dass sie sich niemals in ihn verliebt hatte. Hatte B sie im Krankenhaus besucht, an den Tagen, als sie nicht bei Verstand war, als sie alle nur verschwommen wahrgenommen hatte? Beobachtete er sie nun aus der Entfernung? Wartete er darauf, dass sie Kontakt mit ihm aufnahm? Er existierte irgendwo. Er hatte die Lösung für alles.
Tag für Tag versuchte sie, sich den Weg in ihr früheres Selbst vorzustellen: in diese Frau mit Geheimnissen. Wo würde die Jennifer von früher Briefe versteckt haben? Wo waren die Hinweise auf ihre andere, geheime Existenz? Zwei Briefe hatte sie in Büchern gefunden, ein weiterer war sorgfältig in einen zusammengelegten Strumpf gefaltet. Alle waren an Stellen, an denen ihr Mann niemals nachgesucht hätte. Ich war klug, dachte sie. Und dann, ein wenig ungemütlicher: Ich habe ein Doppelspiel gespielt.
»Mutter«, fragte sie einmal, als sie um die Mittagszeit bei einem Sandwich auf der ersten Etage von John Lewis saßen, »wer saß am Steuer, als ich meinen Unfall hatte?«
Ihre Mutter hatte sie mit einem scharfen Blick bedacht. Das Restaurant war gerammelt voll mit Gästen, die mit Einkaufstüten und schweren Mänteln beladen waren, im Speiseraum herrschte der Lärm von Plaudereien und klapperndem Geschirr.
Sie schaute sich um, bevor sie sich wieder an Jennifer wandte, als wäre die Frage beinahe subversiv. »Schätzchen, müssen wir das wirklich noch einmal durchkauen?«
Jennifer nippte an ihrem Tee. »Ich weiß so wenig darüber, was passiert ist. Es wäre hilfreich, wenn ich die Puzzleteile zusammenfügen könnte.«
»Du bist beinahe ums Leben gekommen. Daran will ich wirklich nicht denken.«
»Aber was ist passiert? Bin ich gefahren?«
Ihre Mutter schaute auf den Teller vor sich. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Und wenn ich es nicht war, was ist mit dem Fahrer passiert? Wenn ich verletzt wurde, dann muss ihm auch etwas zugestoßen sein.«
»Das weiß ich nicht. Wie auch? Laurence kümmert sich im-mer um seine Belegschaft, oder? Ich vermute, der Fahrer war nicht schwer verletzt. Wenn er behandelt werden musste, möchte ich behaupten, dass Laurence es bezahlt hätte.«
Jennifer dachte an den Fahrer, der sie vom Krankenhaus abgeholt hatte: ein erschöpft wirkender Mann Mitte sechzig mit gestutztem Schnurrbart und schütterem Haar. Er hatte nicht so ausgesehen, als leide er unter einem großen Trauma – oder als hätte er ihr Liebhaber sein können.
Ihre Mutter schob die Reste ihres Sandwichs von sich. »Warum fragst du ihn nicht?«
»Das werde ich.« Aber sie wusste, sie würde es nicht tun. »Er will nicht, dass ich grüble.«
»Tja, ich bin mir sicher, da hat er recht, Schätzchen. Vielleicht solltest du dich an seinen Rat halten.«
»Weißt du, wohin ich fuhr?«
Die ältere Frau war nervös, ein wenig gereizt über diese Befragung. »Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich einkaufen. Hör zu, es ist irgendwo in der Nähe der Marylebone Road passiert. Ich glaube, du bist mit einem Bus zusammengestoßen. Oder ein Bus hat dich angefahren. Das war alles so schrecklich, Jenny, Schätzchen, wir konnten nur daran denken, dass es dir wieder besser gehen würde.« Ihre Lippen wurden schmal, ein Zeichen für Jennifer, dass die Unterhaltung beendet war.
In einer Ecke des Raumes schaute eine in einen dunkelgrünen Mantel gehüllte Frau einem Mann in die Augen, der mit einem Finger über ihre Gesichtszüge strich. Noch während Jennifer hinsah, nahm die Frau seine Fingerspitze zwischen die Zähne. Die beiläufige Vertrautheit der Geste durchfuhr sie wie ein Stromschlag.
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