Eine hinreißend widerspenstige Lady
abzulenken, bis Miles wieder zu Hause auf tauchte.“
„Ja, so wurde es mir erklärt. Eigentlich schien alles ganz einfach. Ein verschwundener Bruder - dafür hatten wir wie gesagt eine einfache Erklärung gefunden. Aber nun ist auch noch eine Papyrusrolle verschwunden sowie die Dienstboten. Langsam wird es kompliziert.“
„Ich verstehe nicht, wie Diebe hier hereinkommen konnten“, meinte Lina erstaunt. „Als wir kamen, war Wadid wie immer auf seinem Posten.“
„Der Bursche, der draußen auf der steinernen Bank hockte?“, fragte Rupert. „Der schien mir tief im Gebet versunken.“
Herrin und Dienerin wechselten einen kurzen Blick.
„Ich werde mit ihm sprechen“, sagte Lina und ging hinaus.
Mrs. Pembroke wandte sich von Rupert ab und wieder dem geplünderten Tisch zu. Sie kniete sich davor und schob eines der Bücher ein wenig nach links. Von einem Stück Papier schüttelte sie Sand und legte es unter das Buch. Sie hob Stifte und Schreibfedern auf und räumte sie ordentlich beiseite. Das wütende Funkeln war aus ihren Augen verschwunden und die Zornesröte aus ihren Wangen gewichen, wodurch ihr Gesicht noch bleicher und die Schatten unter ihren Augen noch dunkler wirkten als zuvor.
Rupert kam auf einmal ein Bild aus lang vergangener Zeit in den Sinn: seine Cousine Maria, als sie ihre Puppen beweinte, nachdem Rupert und ihre Brüder damit Schießübungen gemacht hatten.
Weil er keine Schwestern hatte, war er weinende Mädchen nicht gewöhnt. Es hatte ihn schier zur Verzweiflung getrieben. Nachdem er ihr angeboten hatte, die lädierten Puppenleiber wieder zusammenzukleben, hatte die kleine Maria ihm eine der Puppenleichen so heftig um die Ohren gehauen, dass er ein blaues Auge bekommen hatte. Welch eine Erleichterung! Körperliche Züchtigung war ihm weitaus lieber als verwirrende Gefühle.
Die dunklen Schatten unter Mrs. Pembrokes Augen und ihr leichenblasses Gesicht hatten in etwa dieselbe Wirkung auf ihn wie die Tränen seiner Cousine. Und diesmal hatte er sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen. Er hatte dem Bruder dieser Dame nichts getan - seines Wissens kannte er diesen Burschen gar nicht. Und ihren kostbaren Papyrus hatte er ganz gewiss nicht angerührt. Er hatte also keinerlei Grund, sich so ... seltsam zu fühlen.
Vielleicht hatte er ja was Falsches gegessen. Den Fraß im Gefängnis zum Beispiel. Oder ihn hatte doch die Pest gestreift.
„Und das Ding ist wirklich weg?“, vergewisserte er sich. „Nicht nur verlegt oder irgendwo zwischen den anderen Papieren?“
„Ich würde einen Papyrus wohl kaum mit anderen Papieren verwechseln.“
„Tja, ich wüsste schon gern, warum man wegen eines Papyrus solche Umstände macht“, meinte er. „Unterwegs bin ich von sechs verschiedenen Händlern aufgehalten worden, die mir alte Papierrollen unter die Nase hielten. Man kann an keinem Kaffeehaus mehr Vorbeigehen, ohne dass irgendein aufgewecktes Kerlchen herausgesprungen kommt, um einem irgendwelche Papyri anzubieten. Nebst Schwestern, Töchtern und Nebenfrauen, natürlich allesamt Jungfrauen - geprüft und garantiert.“
Sie ließ sich auf die Fersen sinken und sah ihn an. „Mr. Carsington, wir sollten etwas klarstellen.“
„Nicht, dass es mich interessieren würde, ob das stimmt“, fuhr er fort. „Ich habe noch nie verstanden, warum um Jungfrauen so großes Aufhebens gemacht wird. Meiner Ansicht nach ist eine erfahrene Frau doch viel ..."
„Ihre Ansicht interessiert nicht“, unterbrach sie ihn. „Sie sind nicht zum Denken hier. Sie sind hier, um Ihre Muskeln spielen zu lassen. Denken tue ich. Ist das klar?“
Zumindest war ihm klar, dass sie zu echauffieren ein treffliches Mittel war, um den Tränenfluss aufzuhalten. Ihre Augen funkelten wieder, und ihr Gesicht, wenngleich immer noch blass, wirkte keineswegs mehr so angespannt und leichenbleich.
„Glasklar“, sagte Rupert.
„Gut.“ Sie deutete auf den Diwan. „Bitte setzen Sie sich. Ich muss Ihnen jetzt einiges sagen, und es ist recht ermüdend, ständig zu Ihnen aufschauen zu müssen. Sie können Ihre Schuhe ruhig anlassen. Es ist so umständlich, wenn man sich europäisch kleidet, und ich verstehe sowieso nicht, warum man sich im Orient die Mühe macht, seine Schuhe auszuziehen, wo doch ohnehin alles von einer feinen Sandschicht überzogen wird, ohne dass wir auch nur irgendetwas dagegen tun könnten.“
Er setzte sich, klopfte eines der Kissen auf und lehnte sich zurück. Als sie ihm gegenüber Platz nahm, fiel ihm
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