Eine hinreißend widerspenstige Lady
Sonnenuntergang stand Daphne am Fenster ihres Zimmers und sah auf den Fluss hinaus.
Theben war wie London an beiden Flussufern erbaut worden. Damit endete die Gemeinsamkeit allerdings auch schon. Die Stadt schien wie eine andere Welt. Am Ostufer erhoben sich die gewaltigen Tempel, Obelisken und Pylone von Luxor und Karnak. Am westlichen Ufer thronten die Kolosse des Memnon. Hinter ihnen erstreckte sich weit die Nekropole mit ihren Tempeln und Gräbern. Letztere reihten sich wie zahllose Bienenwaben in den Osthang des Libyschen Gebirges. Daphne blickte auf die Berge, hinter denen das Tal der Könige lag.
„Hast du gänzlich den Verstand verloren?“
Sie drehte sich um. Ihr Bruder stand in der Tür. „Hat die Hitze dir das Hirn versengt?“, fragte er ungehalten, kam herein und schlug die Tür hinter sich zu. „Wir können nicht hierbleiben. Er ist ... er ist ... “ Miles ließ seinen Finger an der Schläfe kreisen.
„Es ist mir völlig gleich, was er ist“, erwiderte sie. „Wie er ganz richtig bemerkte, besteht kein Grund, schon nach Kairo zurückzukehren, und er zeigt sich sehr beflissen, uns zu beherbergen. Er hat mir versprochen, meine Bücher aus Kairo schicken zu lassen. Es könnte schwierig werden, das koptische Wörterbuch zu ersetzen, das ich auf der Isis dabeihatte, aber er will gern bei den Koptenklöstern anfragen. Du siehst, er will mich bei Laune halten.“
„Natürlich will er dich bei Laune halten“, sagte Miles. „Du bist ja auch steinreich. Mit deiner finanziellen Unterstützung könnte er das ganze Tal ausgraben und sich zum König von Theben ausrufen lassen. Du bist ihm die Gans, die goldene Eier legt - eine unerschöpfliche Quelle des Reichtums.“
Virgils Vermächtnis, dachte sie bitter. Um wie viel leichter es für ihn doch gewesen war, ihr nach seinem Tod sein gesamtes Vermögen zu vermachen, als ihr zu Lebzeiten respektvoll zu begegnen.
„Wir werden ganz Theben ungehindert erkunden können“, meinte sie. „Alle Königsgräber, einschließlich des von Belzoni entdeckten. Hunderte hieroglyphischer Schriftproben. Eine einmalige Gelegenheit - und ich muss mich nun nicht einmal mehr verstellen.“
„Und er wird sich uns gefügig machen, indem er den jeweils anderen bedroht“, verhieß Miles.
„Dann wäre es klug, ihn nicht zu provozieren, sodass er uns gar nicht erst drohen muss“, meinte sie.
„Er hat es sich in den Kopf gesetzt, dich zu heiraten“, sagte Miles. „Ist dir das eigentlich klar? Er will über alles verfügen -über dich, dein Geld. Und Wahnsinn hin, Goldener Teufel her, er schaut dich an wie alle anderen Männer auch.“
Sie musste daran denken, wie Rupert Carsington sie angeschaut hatte, wie das Lachen seine Augen funkeln ließ. Sie dachte an den letzten Nachmittag auf der Isis.
Wir könnten heiraten.
Ihr wurde beklommen zumute. Sie senkte den Kopf und verdrängte die Trauer. Wenn sie ihren Gefühlen nachgab, würde sie darin versinken und nie wieder herausfinden. Sie wäre verloren. Trauer konnte sie sich nicht leisten. Wenn sie dies hier überleben wollte, musste sie stark und unerbittlich sein.
„Denk doch mal nach“, sagte sie schroff. „Dein Freund würde uns nicht gehen lassen. Wir müssen versuchen, das Beste daraus zu machen.“
„Das Beste? Meinst du, so wie bei Pembroke?“, entgegnete Miles. „Meinst du, ich will dich wieder leiden sehen?“
Sie sah ihn an und mühte sich ein Lächeln ab. „Wer Virgil überlebt hat, kann alles überleben“, befand sie. „Irgendwie kommen wir hier schon weg. Aber das braucht Zeit und will umsichtig geplant sein - und du musst lernen, mir mehr zu vertrauen.“
Am Dienstag und Mittwoch besichtigten sie Luxor, das sich indes aus der Feme des anderen Flussufers betrachtet oder in den Darstellungen der Description de l’Egypte als weitaus ansehnlicher und spektakulärer erwies. Die Wirklichkeit empfand Daphne als beklemmend, doch vielleicht lag das auch nur an ihrem niedergeschlagenen Gemütszustand.
Das Elend der ärmlichen Behausungen, die sich in jeder Ecke und jedem Winkel fanden, die Tauben, der Unrat und der Gestank erdrückten sie ebenso, wie die Obelisken, Säulen und Pylone, die mächtigen Tortürme, in Sand und Geröll zu versinken drohten.
Sie hielt sich an, alles mit dem Blick der Gelehrten zu betrachten. Am Mittwochmorgen erbat sie sich ein Notizheft von Lord Noxley und begann mit der Abschrift hieroglyphischer Inschriften.
Am Donnerstag brachen sie nach Karnak auf, das nur zwei
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