Eine hinreißend widerspenstige Lady
Nationen halten? Es ist zweifelsohne nicht richtig, die Ruhe der Toten zu stören und Mumien zu zerfledern, um an Schmuck und Papyri zu gelangen. Aber ohne diese Papyri hätten wir Gelehrte keine Kenntnis der Vergangenheit. Und bevor die Schätze des Altertums hier zerstört werden, ist es da nicht besser, sie in unseren Museen zu bewahren? Auch ich weiß keine Antwort darauf. Ich weiß nur, dass mein Papyrus wahrscheinlich aus einem dieser Gräber stammt und ich es Grabräubern wie den Qurnanern verdanke, wenn ich ihn jetzt besitzen darf.“
Noxley schüttelte den Kopf. „Ihr Papyrus ist aus keinem gewöhnlichen Grab“, sagte er. „Er muss aus einem der Königsgräbe r im Biban el-Muluk stammen.“
„Das hat Anaz behauptet“, wandte Miles ein.
„Nun, da ich Gelegenheit hatte, ihn mir genauer anzusehen und mit einigen anderen Papyri zu vergleichen, bin ich eher gewillt, ihm zu glauben“, meinte Noxley. „Die Kartuschen beispielsweise. In Königsgräbern und Tempeln habe ich oft Kartuschen gesehen, doch nie auf einem Papyrus. Andererseits sind die meisten Papyri auch nicht in Hieroglyphen, sondern in hieratischer Schrift verfasst, weshalb mir manch ein Königsname entgangen sein mag.“
Daphne hatte noch nicht genügend Papyri gesehen, um zu solchen Befunden zu gelangen. „Wie viele Papyri haben Sie denn erforscht?“, erkundigte sie sich.
„Ich würde mir niemals anmaßen zu sagen, ich hätte sie erforscht“, meinte er bescheiden, „bin ich doch mehr Entdecker als Gelehrter, aber meine Sammlung umfasst an die fünfzig Papyri.“
„Das ist beachtlich“, sagte Daphne. Sie hatte nicht mal halb so viele.
„Sie dürfen sie selbstverständlich allesamt für Ihre Studien verwenden. Ihr Aufenthalt in Theben stand zu Beginn nicht gerade unter einem guten Stern, doch ich will mich bemühen, das wiedergutzumachen, und werde deshalb nun ganz offen mit Ihnen reden, wie Sie es zu bevorzugen scheinen. Es wäre mir sehr daran gelegen, ein Königsgrab zu entdecken. Und Sie wünschen sich, das Geheimnis der Hieroglyphen zu entschlüsseln. Würden wir uns zusammentun - als Kollegen wohlgemerkt, denn mehr möchte ich mir im Augenblick nicht anmaßen -, wären unsere Ziele viel schneller zu erreichen, meinen Sie nicht auch?“
„Und Miles?“, fragte Daphne. „Welche Rolle wird er übernehmen?“
Noxley bedachte ihren Bruder mit engelsgleichem Lächeln. „Archdale, Sie haben mich arglistig hintergangen. Zuerst war ich erbost darüber, von Ihnen zum Narren gehalten worden zu sein, doch Sie haben es Ihrer Schwester zuliebe getan. Und so will ich Ihnen verzeihen. Wie ich mich zu erinnern meine, hatten Sie einmal recht interessante Ideen geäußert, wie sich Zugänge verschütteter Gräber lokalisieren ließen. Vielleicht sollten wir diesbezüglich die Köpfe zusammenstecken.“
„Gewiss“, erwiderte Miles. „Und weitaus angenehmer, als einen Kopf kürzer gemacht zu werden.“
Lord Noxley lachte, als handele es sich um einen besonders guten Witz. Dann sprach er über das von Belzoni entdeckte Grab und die Wahrscheinlichkeit, weitere aufzufinden, die gar noch beeindruckender wären.
Nachdem sie wieder in Luxor angekommen waren und sich ihren Weg durch die engen Gassen bahnten, trat unweit des Hauses Seiner Lordschaft eine alte Frau an Daphne heran und erbot sich, ihr die Zukunft weiszusagen.
Noxley gab ihr eine Münze und wies sie an, ein andermal wiederzukommen - die Dame sei sehr erschöpft. Die Alte nahm die Münze und bot an, einen Glückszauber über die Dame zu sprechen. Noxley zuckte die Schultern.
Daraufhin nahm die Wahrsagerin Daphnes Hand und murmelte so leise, dass nur Daphne es hören konnte: „Er kommt mit Feuer. Seid bereit.“
Obwohl sie seine Schwester war, hatte Miles schon früh begriffen, dass es an Daphnes Figur lag, wenn Männer sich ihretwegen zu Idioten machten.
Völlig verständlich.
Was er indes nicht verstand, war, warum sie immer ausgerechnet jene Männer anzog, die nicht ganz richtig im Oberstübchen waren.
Der auf poetische Weise gut aussehende Virgil Pembroke mit seiner lieben, sanften Art hatte sich als frömmlerischer und scheinheiliger Tyrann erwiesen. Er war besitzergreifend, rasend eifersüchtig auf andere Männer und noch viel eifersüchtiger auf Daphnes Verstand, der dem seinen weit überlegen war.
Auch bei Noxley verbarg sich hinter einem ansprechenden Äußeren und charmanten Wesen eine finstere Seele. Er hatte es gerade nötig, Miles vorzuwerfen, ihn arglistig
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