Eine hinreißende Schwindlerin
Bemühungen wirklich zu schätzen und ich verstehe Ihren Zorn. Sie haben jedes Recht …“
„ Jedes Recht! Sie sagen es.“ Wieder befeuchtete er seine Lippen und beugte sich nach vorn. Sein Blick war beinahe teuflisch. Jenny konnte allmählich nachvollziehen, warum Hexen früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren. Nicht weil die Leute Angst vor ihrer Macht hatten; eine wirklich mächtige Hexe, vor der man sich fürchten musste, hätte das Feuer besiegen können. Es war vielmehr so, dass das gemeine Volk, sobald ihm klar geworden war, dass es nichts zu befürchten hatte, jemanden – irgendjemanden – bestrafen wollte für seine eigene, völlig unlogische Angst. Mr. Sevin hatte sich soeben als zu so einem Volk zugehörig entpuppt.
„Hören Sie“, schlug Jenny vor. „Warum hebe ich nicht einfach mein gesamtes Geld ab? Anschließend löse ich das Konto auf und wir brauchen uns nie wiederzusehen.“
Mr. Sevins Lippen kräuselten sich. Er betrachtete Jenny eine Weile, dann lächelte er verzerrt. „Wie ist Ihr Kontostand?“
Jenny zog ihr Sparbuch aus dem Retikül und reichte es ihm. Der Angestellte leckte über die Spitze seines Zeigefingers und blätterte die Seiten bis zum letzten Eintrag um. Dabei hinterließ er Tintenflecke auf dem Papier.
Schließlich schob er ihr ein Formular zu. „Das müssen Sie ausfüllen. Unterschreiben Sie hier. Und da.“
Als Jenny damit fertig war, stand er auf und ging zu einem Regal, dem er einen dicken braunen Ordner entnahm. Jenny kannte das Unterschriftenverzeichnis noch von dem Tag, als sie ihr Konto eröffnet hatte.
Er legte den Ordner auf den Schaltertresen und blätterte lustlos die Seiten um. „Sagen Sie, ist Ihr Name wirklich Madame Esmeralda?“
Sie war es langsam leid, immer wieder auf diese Frage antworten zu müssen. „Nein. Ich heiße Jenny Keeble.“
„Hm.“ Er hielt im Umblättern inne. „Gut.“ Plötzlich griff er nach ihrem Sparbuch und dem Formular, zog eine Schublade auf und warf beides hinein. Ehe Jenny ihre Unterlagen wieder an sich reißen konnte, hatte er die Schublade bereits wieder zugeschoben und drehte den Schlüssel im Schloss um.
„Halt! Das dürfen Sie nicht! Geben Sie mir mein Sparbuch zurück!“
„ Was soll ich Ihnen zurückgeben?“ Sein Tonfall klang unschuldsvoll, aber seine Augen funkelten boshaft.
„Mein Sparbuch! Das ich Ihnen eben gegeben habe!“
Mr. Sevin schüttelte verwirrt den Kopf. „Sie haben mir kein Sparbuch gegeben. Zufällig befindet sich gerade eins in dieser Schublade hier, aber das gehört keiner Jenny Keeble .“ Er tippte auf die Seite vor sich, auf der ihre Unterschrift stand, die Unterschrift einer Betrügerin. „Dieses Sparbuch gehört zu Madame Esmeraldas Konto. Und die sind Sie ja nicht.“
„Sie! Sie geben mir sofort mein Sparbuch, sonst …“
„Sonst was? Werden Sie mich verfluchen? Sie haben selbst zugegeben, dass Sie das nicht können. Wollen Sie die Polizei rufen? Wie denn, Sie haben ja selbst einen Betrug gestanden!“
„Ich …“ Sie nagte verzweifelt an ihrer Unterlippe. Wenn sie jetzt eine Szene machte, würden die anderen Bankangestellten kommen und Fragen stellen. Der Beweis für Mr. Sevins Fehlverhalten mochte nicht ausreichen, ihn vor Gericht zu bringen, aber er würde sicher bewirken, dass Jenny in den Besitz des von ihr benötigen Geldes kam. Doch da stand noch immer Mrs. Sevin, eine stumme Erinnerung an Jennys eigene Lügen. Jenny wusste nur zu gut, dass die Frau ständig die Unzufriedenheit ihres Mannes mit seinem Leben ausbaden musste. Manchmal durch Schläge, meist durch gehässige, entmutigende Bemerkungen. Mrs. Sevins erste Frage an Jenny hatte gelautet: „Wie kann ich eine bessere Ehefrau werden?“
Jenny atmete tief durch. Schon bald war ihre Miete fällig, aber sie konnte zu einer anderen Tageszeit wiederkommen, wenn Mr. Sevin nicht da war, an einem der Tage, an denen er nur halbtags arbeitete. Auf diese Weise würde seine Frau nicht seine ganze Wut zu spüren bekommen. Jenny konnte ihre Situation einem anderen Angestellten erklären, der sie zwar vom Sehen her kannte, aber nichts von Madame Esmeraldas schmutziger Geschichte wusste. Es war nur ein kurzer Aufschub, eine vorübergehende Verzögerung.
Jenny hatte eigentlich keine andere Wahl. Sie war Mrs. Sevin etwas schuldig, genauso wie sie Ned etwas schuldig war. Sie straffte die Schultern und Mr. Sevin grinste triumphierend. Sie sah an dem Mann vorbei zu Mrs. Sevin. „Es tut mir leid“, sagte Jenny.
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