Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
wiedergefunden. Ich wollte, wir hätten gemeinsame Kinder. Mit zwanzig, dreißig hatte ich einen schönen, starken Körper, wie schade, daß du ihn nie gesehen hast.
Josh ließ den letzten Ton langsam verklingen. Bill nahm Bridget bei der Hand. Matt, Bridgets Sohn, stand nur eine Handbreit von ihnen entfernt.
Das, dachte Bridget, ist jetzt mein Leben. Das ist alles, was ich habe. Einen Mann, einen Sohn und eine kurze Zukunft, in der ich jede Stunde leben muß, als wäre es meine letzte.
Sobald Rob zu spielen begann, wußte Agnes, daß sie weinen würde. Das ging ihr in der Kirche so, wenn ein vertrautes Lied gesungen wurde, im Konzert, wenn die Geigen schluchzten, sogar bei Baseballspielen, wenn der Tenor die Nationalhymne anstimmte. Die Musik löste etwas in ihr und setzte Gefühle frei, die sonst in Schach gehalten wurden. Ehrfurcht. Dankbarkeit. Eine Ahnung, daß es etwas gab, was über das eigene Ich hinausging. Schmerz. Kummer. Einsamkeit.
Manchmal weinte sie um die Namenlosen. Um die Tausende, die bei den Stammeskämpfen in Zentralafrika getötet worden waren. Um die Opfer der Erdbeben in Südostasien. Um die Hunderte, die von Fluten in Indien verschlungen worden waren. Manchmal weinte sie um die Toten des Ersten Weltkriegs oder um jene Menschen, die mit der Titanic untergegangen oder in Masada gefallen waren. Und in letzter Zeit weinte sie oft um die Opfer des elften September. Was brachte einen Menschen dazu, aus dem 103. Stockwerk eines Gebäudes zu springen, obwohl er wußte – wußte –, daß dies nichts anderes war als eine schnellere Art des Selbstmords? Zu dem nur die Schwerkraft nötig war. Würde man im Fall bei Bewußtsein bleiben, oder würde der Körper mit Schock reagieren und barmherzige Bewußtlosigkeit hervorrufen? Wie lange würde es dauern, bis man unten aufschlug? Agnes versuchte, sich die Frau vorzustellen, von der sie in der New York Times gelesen hatte, die nach der Kaffeekanne gegriffen hatte, während sie, die Flammen im Rücken, auf einem Fenstersims gestanden und hinuntergeschaut hatte. Nein, dachte Agnes, sie an ihrer Stelle wäre nicht gesprungen.
Lieber Gott, diese Heulerei war ja entsetzlich. Vielleicht sollte sie verschwinden. Josh reichte ihr ein Taschentuch, und sie versuchte, ihm zuzulächeln, aber es klappte nicht. Ihr zuckender Körper ließ sich nicht beruhigen. Sie würde fürchterlich aussehen, ihre Augen würden sich stundenlang nicht erholen – sie würde das Gesicht in kaltes Wasser tauchen müssen, um sie klar zu bekommen.
Aber sie konnte nicht aufhören zu weinen. Sie mußte an Halifax denken und an die vielen Menschen, die dort gestorben waren. Sie mußte an die Frau denken, die mit zerquetschtem Brustkorb unter dem Balken gelegen hatte. Diese Frau war vielleicht Mutter gewesen. Ja, bestimmt war sie das gewesen. Und an das zehnjährige Mädchen, das seine ganze Familie verloren hatte. Man stelle sich das vor – von diesem hellen Licht getroffen zu werden und dann in einer höllischen Welt zu erwachen, in der man ganz allein war. Sie dachte an den armen Mann, mit dem leblosen Kind in den Armen an ein totes Pferd gelehnt. Konnte der Schock über das Ereignis den Schmerz aufhalten? Konnte der Schmerz eines Vaters und einer Mutter je getilgt werden?
Agnes würde es nie erfahren. Sie würde niemals Mutter sein. Sie war vierundvierzig Jahre alt, und schon kamen ihre Tage unregelmäßig, manchmal in Abständen von zwei oder drei Monaten. Jims Frau Carol (was für ein eiskalter Name!) war zweimal Mutter geworden – ihre Kinder waren jetzt erwachsen, eines mitten im Studium, eines gerade damit fertig. Jim hatte einmal gesagt, er werde Carol vielleicht verlassen, wenn beide Kinder mit dem Studium fertig wären (zuvor hatte es geheißen, wenn beide die Schule beendet hätten, aber das war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, wie Jim ihr auseinandergesetzt hatte: Wohin sollten die Kinder denn gehen, wenn sie in den Ferien von der Universität nach Hause kamen?). Aber Agnes bezweifelte, daß Jim seine Frau jemals verlassen würde. Und selbst wenn, für Kinder war es jetzt zu spät.
Also kein Kind.
Agnes schaute sich unauffällig um. Nora saß neben Harrison. Nora hatte keine Kinder. Carl hatte gesagt, er habe schon Kinder genug. Er war nicht bereit, ein weiteres in Erwägung zu ziehen. Rob und Josh würden nie eigene Kinder haben, es sei denn, sie adoptierten welche. Aber sie alle lebten oder kannten etwas, was Agnes nie kennengelernt hatte. Zuverlässige
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