Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Insel

Eine Insel

Titel: Eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
Vom Netzwerk:
kein Zögern anmerken lassen. Er flocht Papierreben, um Steine und Korallenstücke an dem bedauernswerten Captain Roberts und seinem Steuerrad zu befestigen. Papierreben wurden umso fester, wenn sie nass wurden, und es dauerte Jahre, bis sie verrotteten. Wohin auch immer der Captain ging, er würde dort bleiben. Es sei denn, er verwandelte sich in einen Delfin. Dann machte Mau eilig den Schnitt, um des Captains Seele freizulassen.
    Auf den Felsen hinter ihm sang das Mädchen ein Lied.
    Diesmal klang es allerdings gar nicht nach Na-na-na. Irgendwie konnte Mau ihre Stimme jetzt besser wahrnehmen, nachdem er sie sprechen gehört hatte. Wahrscheinlich waren es Worte, auch wenn sie für Mau keine Bedeutung hatten. Aber er dachte: Es ist ein Lied der Hosenmenschen für ihre Toten. Sie sind wie wir! Aber wenn Imo sie geschaffen hat, warum sind sie dann so anders?
    Der Captain war jetzt fast ganz untergetaucht, ohne den Holzring loszulassen. Mau hielt noch den letzten Stein in einer Hand und stieß den schwimmenden Toten von sich. Dabei tastete er die ganze Zeit mit den Füßen nach Halt an der Felskante. Auch die Kälte der Tiefe konnte er spüren.
    Da unten war die Strömung. Niemand wusste, woher sie kam, obwohl es Geschichten über ein Land im Süden gab, wo das Wasser wie Federn vom Himmel fiel. Dafür wusste jeder, wohin sie ging. Jeder konnte es sehen. Sie wurde zum Schimmernden Pfad, einem Fluss aus Sternen, der quer über den nächtlichen Himmel strömte. Einmal in tausend Jahren, so hieß es, wenn Locaha unter den Toten nach denen suchte, die er in die vollkommene Welt schicken wollte, stiegen jene über diesen Pfad empor und schickten die Übrigen zurück, damit sie Delfine blieben, bis für sie die Zeit der Wiedergeburt gekommen war.
    Wie kann das sein?, fragte sich Mau. Wie wird Wasser zu Sternen? Wie wird ein toter Mensch zu einem lebenden Delfin?
    Aber war das nicht eine Kinderfrage? Eine von den Fragen, die ein Mann nicht stellen sollte? Sie waren entweder dumm oder falsch, und wenn man zu oft »Warum?« fragte, bekam man jede Menge Arbeit aufgedrückt und als einzige Antwort: »So ist die Welt eben!«
    Eine kleine Welle schwappte über den Captain. Mau befestigte den letzten Stein am Steuerrad, und während der Leichnam allmählich in die Tiefe glitt, gab Mau ihm einen Stoß hinaus in die Strömung.
    Blasen stiegen auf, als der Captain langsam versank, bis er nicht mehr zu sehen war.
    Mau wollte sich gerade umdrehen, als er bemerkte, dass ihm unter Wasser etwas entgegenstieg. Es durchbrach die Oberfläche und kippte auf die Seite. Es war die Mütze des Captains, und als sie sich jetzt mit Wasser füllte, tauchte sie gemächlich wieder unter.
    Hinter ihm war lautes Platschen zu hören, und im nächsten Moment stolperte das Mädchen von der Daphne-Sippe an ihm vorbei. Ihr weißes Kleid waberte wie eine riesige Qualle um sie herum.
    »Lass sie nicht wieder untergehen!«, rief sie. »Er will, dass du sie nimmst!« Sie machte einen Satz, griff nach der Mütze, schwenkte sie triumphierend – und ging unter.
    Mau wartete darauf, dass sie wieder hochkam, aber er sah nur Blasen aufsteigen.
    Konnte es tatsächlich sein, dass es auf der Welt jemanden gab, der nicht…?
    Sein Körper reagierte wie von selbst. Er tauchte ab, packte den größten Korallenbrocken, den er finden konnte, und stieß sich über die Kante ins dunkle Wasser.
    Unter ihm schwebte der arme Captain langsam der jenseitigen Welt entgegen. Mau schoss in einer silbrigen Luftblasenfontäne an ihm vorbei.
    Von unten stiegen weitere Blasen auf, und ein bleicher Schatten verschwand in der Zone, die das Sonnenlicht nicht mehr erreichte.
    Dieses Mädchen nicht, dachte Mau, so laut er konnte.
    Nicht jetzt. Niemand verschwindet lebend in der Dunkelheit.
    Ich habe dir gute Dienste geleistet, Locaha. Ich bin in deinen Fußstapfen gewandelt. Du solltest mir etwas schuldig sein. Ein Leben musst du wieder aus der Dunkelheit entlassen!
    Und aus der finsteren Tiefe antwortete ihm eine Stimme: Ich erinnere mich an keine Vereinbarung, Mau. Weder an einen Pakt oder ein Bündnis noch an eine Abmachung oder ein Versprechen. Es gibt nur das, was geschieht, und das, was nicht geschieht. Es gibt kein »sollte« und »dar!«.
    Auf einmal verhedderte er sich in den Röcken ihres Kleides wie in einer gewaltigen Seeanemone. Er ließ den Stein in die Dunkelheit fallen, suchte nach ihrem Gesicht, blies die Luft aus seinen schmerzenden Lungen in ihre, sah, wie sie die Augen

Weitere Kostenlose Bücher