Eine Insel
ein Glücksritual. Abgesehen davon, musste man wissenschaftlich an solche Sachen herangehen und alles schön der Reihe nach analysieren. Das Geheimnis waren die Handbewegungen, da war sie sich ganz sicher. Zumindest einigermaßen.
Sie goss ein wenig von der tödlichen Biervorstufe in eine Schale und starrte sie an. Vielleicht lag es aber auch an der Melodie, und der Text hatte gar nichts damit zu tun. Vielleicht machte die Frequenz der menschlichen Stimme etwas mit den winzig kleinen, atomaren Substanzen, ähnlich wie bei der berühmten Opernsopranistin Dame Ariadne Stretch, die ein Glas zerspringen ließ, indem sie es ansang. Das klang doch sehr vielversprechend, vor allem, wenn man wusste, dass nur die Frauen für das Bier zuständig waren, und die hatten ja schließlich die höheren Stimmen!
Der Teufelstrank erwiderte ihren Blick, geradezu selbstgefällig, wie sie fand. Na los, schien er zu sagen, zeig, was du kannst!
»Ich weiß leider nicht, ob ich noch den ganzen Text zusammenkriege«, sagte sie, und schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie sich soeben bei einem Getränk entschuldigt hatte. Das kam dann dabei heraus, wenn man in feinen Gesellschaftskreisen zur Höflichkeit erzogen worden war. Daphne räusperte sich.
Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen!
Wer will guten Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen…
Nein, das war wohl nicht das richtige Lied für ein Getränk, und außerdem konnte sie ja nicht einmal backen. Wie wäre es mit…? Sie zögerte und dachte über Lieder nach. Konnte es wirklich so einfach sein? Sie stimmte ein neues Lied an und zählte dabei mit den Fingern ab.
»Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum, di-deldum…«
Sie sang die Strophe genau sechzehnmal. Dabei beobachtete sie das blubbernde Bier und wartete darauf, dass es plötzlich klar wie ein Diamant wurde. Dann testete sie ihre Schlussfolgerung – wie es auch ein richtiger Wissenschaftler tun würde – an zwei weiteren Schalen Mutterbier. Danach war sie sich ziemlich sicher und äußerst zufrieden. Jetzt hatte sie eine Arbeitshypothese.
»Bi-Ba-Butzemann…«
Sie stutzte, als sie Menschen spürte, die sich bemühten, still zu sein. Cahle und die Unbekannte Frau standen im Eingang und lauschten interessiert.
»Männer«, sagte Cahle fröhlich. Sie hatte sich eine Blume ins Haar gesteckt.
»Äh… was?«, sagte Daphne verwirrt.
»Ich will gehen und meinen Ehmann sehen!«
Das konnte Daphne gut verstehen, und es sprach ja auch nichts dagegen. Männer durften den Hain nicht betreten, aber Frauen konnten kommen und gehen, wie sie wollten.
»Äh… ja«, sagte sie und spürte etwas an ihrem Haar. Sie wollte es gerade wegwischen, als sie erkannte, dass es die Unbekannte Frau war, die ihre Zöpfe öffnete. Daphne war drauf und dran, sie davon abzuhalten, doch dann sah sie Cahles warnenden Blick. Die Unbekannte Frau war von einem schlimmen Ort in ihrem Kopf zurückgekehrt, und jeder Schritt in die Normalität sollte unterstützt werden.
Daphne spürte, wie die Zöpfe vorsichtig auseinander gezogen wurden.
Dann nahm sie einen Hauch Parfum wahr und bemerkte erst dann, dass die Frau ihr eine Blüte hinters Ohr gesteckt hatte.
Diese Blumen wuchsen überall im Hain. Sie hatten große rosa- oder purpurfarbene Blütenblätter, und ihr Duft war ungemein betörend. Cahle steckte sich jeden Abend eine ins Haar.
»Äh, danke«, sagte Daphne.
Cahle nahm sie behutsam am Arm, und Daphne verspürte leichte Panik. Auch sie sollte zum Strand gehen? Aber sie war doch praktisch halbnackt! Unter dem Grasrock trug sie schließlich nur einen Petticoat, ihre Pantalons und ihre Unaussprechlichen! Und ihre Füße waren sogar bis hinauf zu den Knöcheln gänzlich nackt!
Dann wurde es seltsam, und auch später würde sie nie so richtig verstehen, wie es dazu gekommen war.
Sie sollte zum Strand hinuntergehen. Die Entscheidung stand klar und deutlich in ihrem Kopf. Sie hatte entschieden, dass es an der Zeit war, zum Strand hinunterzugehen. Nur konnte sie sich nicht erinnern, diese Entscheidung bewusst getroffen zu haben. Es war ein merkwürdiges Gefühl, so als wäre man satt, ohne die Erinnerung daran, etwas gegessen zu haben. Und da war noch etwas, das langsam wie ein Echo ohne Stimme verhallte: Jeder hat Zehen!
Mau musste zugeben, dass Milo ein ziemlich guter Koch war. Er wusste, wie man Fisch zubereitete. Als sie zurückkehrten, hing ein verführerischer Duft über dem Lager, und selbst der Luft schien das Wasser im
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