Eine Insel
dem Hai seine gesamte Atemluft mit einem Schrei entgegen. Der Hai drehte sofort ab, als wäre er gegen einen Felsen gestoßen, aber Mau wartete nicht darauf, ob er zurückkehrte. Er wirbelte im Wasser herum und schwamm so schnell er sich traute zum Kanu – möglichst schnell und möglichst ohne zu plantschen. Als die Brüder ihm ins Boot halfen, zog der Hai unter ihnen vorbei.
»Du hast ihn verjagt!«, sagte Pilu, während er ihn hochhievte.
»Du hast ihn angeschrien, und er ist geflüchtet!«
Weil der alte Nawi recht hatte, dachte Mau. Haie reagieren empfindlich auf Lärm, und unter Wasser wird der noch verstärkt. Es spielte also keine Rolle, was man schrie, solange der Schrei nur laut genug war!
Vielleicht wäre es keine so gute Idee gewesen, wenn der Hai großen Hunger gehabt hätte, doch es hatte geklappt! Und wenn man überlebte, spielte alles andere ohnehin keine Rolle mehr!
Sollte er es ihnen verraten? Selbst Milo sah ihn voller Ehrfurcht an. Ohne es in Worte fassen zu können, hatte er das Gefühl, dass es im Moment gar nicht verkehrt war, geheimnisvoll und vielleicht sogar ein bisschen gefährlich zu erscheinen. Und sie würden nie erfahren, dass er auf dem Rückweg zum Kanu vor Angst ins Meer gepinkelt hatte – was im Wasser übrigens fast genauso schlimm war wie Blut, wenn es um Haie ging. Aber es war höchst unwahrscheinlich, dass der Hai es irgendwem verriet. Mau blickte sich um und rechnete fast damit, einen Delfin zu sehen, der darauf wartete, dass er ihm einen Fisch zuwarf – und das wäre… richtig gewesen. Doch da war kein Delfin.
»Er hatte Angst vor mir«, sagte er.
»Vielleicht hatte er Angst vor dem Dämon.«
»O Mann!«, sagte Pilu.
»Sobald wir zurück sind, erinnere mich bitte daran, dass ich Nawi einen Fisch schuldig bin.«
Dann blickte er sich im Boot zu Ataba um, der wie ein kleines Häufchen Elend im Heck lag.
»Wie geht es ihm?«
»Er ist gegen die Korallen geschleudert worden, aber er wird überleben«, sagte Milo und warf Mau einen fragenden Blick zu, als wollte er sagen: Wenn du damit kein Problem hast. Dann fuhr er fort: »Äh… wer ist Nawi? Ein neuer Gott?«
»Nein. Viel besser als ein Gott. Ein guter Mann.«
Jetzt war Mau kalt. In der blauen Blase war es ihm so warm vorgekommen. Er hätte gerne gezittert, wollte aber nicht, dass die anderen es sahen. Er hätte sich gerne hingelegt, aber dafür war jetzt keine Zeit. Er musste zurückkehren, er musste herausfinden…
»Großväter?«, flüsterte er. »Sagt mir, was ich tun soll! Ich kenne die Gesänge und Lieder nicht, aber helft mir nur dieses eine Mal! Ich brauche ein Bild von der Welt, eine Karte!«
Keine Antwort. Vielleicht waren sie einfach nur müde, aber sie konnten wohl kaum müder sein als er. Wie ermüdend mochte es schon sein, nicht mehr zu leben? Wenigstens konnte man liegen.
»Mau?«, brummte Milo hinter ihm. »Was geht hier vor? Warum hat der Priester versucht, die heiligen Steine zu zerstören?«
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt »Ich weiß es nicht« zu sagen. Die Brüder sahen ihn mit flehenden, hungrigen Augen an, wie Hunde, die gefüttert werden wollten. Sie brauchten eine Antwort von ihm. Es wäre nett, wenn es die richtige Antwort wäre, aber wenn das nicht ging, tat es auch irgendeine Antwort, damit sie sich dann keine Sorgen mehr machen mussten… und dann hatte er eine zündende Idee.
Nun wusste er, was die Götter waren! Eine Antwort, mit der man leben konnte! Denn wenn man ständig Nahrung besorgen, Kinder auf die Welt bringen und das Leben bewältigen musste, hatte man keine Zeit für große, komplizierte und beunruhigende Antworten! Bitte gib uns eine einfache Antwort, damit wir nicht nachdenken müssen, denn wenn wir nachdenken müssen, kommen wir vielleicht auf Antworten, die nicht zu der Welt passen, wie wir sie gern hätten.
Und was sagte er ihnen jetzt?
»Ich glaube, er denkt, dass sie gar nicht heilig sind«, sagte Mau schließlich.
»Wegen des Stechzirkels, der darauf eingraviert ist, richtig?«, sagte Pilu. »Den wollte er zertrümmern! Er glaubt, dass du recht hast. Sie wurden von den Hosenmenschen gemacht!«
»Sie stecken mitten in den Korallen«, sagte Milo. »Riffe sind sehr alt. Hosenmenschen sind neu.«
Ataba rührte sich. Mau ging neben ihm in die Hocke, während die Brüder das Kanu drehten und sich durch die Lücke im Riff zurückkämpften. Am Strand standen die Anderen und wollten sehen, was los war.
Die Brüder hatten alle Hände voll zu tun, und
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