Eine Insel
schien der Wind nie besonders stark zu wehen, und laute Geräusche verloren sich heimlich in den Bäumen.
Dies war wirklich ein heiliger Ort, und nicht etwa wegen irgendeines Gottes. Er war… einfach heilig, weil er existierte, weil hier Schmerz und Blut und Freude und Tod endlos durch die Zeiten hallten und ihn so dazu gemacht hatten.
Da war die Stimme wieder. »Schnell! Beeil dich!« Daphne sah sich erschrocken um. Doch die Frauen im Garten hatten nicht einmal aufgeblickt. Dennoch lag in diesem »Beeil dich« eine Dringlichkeit, die sie aufspringen ließ.
Ich scheine Selbstgespräche zu führen, dachte Daphne, als sie den Frauenhain verließ. So etwas machen Menschen mitunter.
Und für jemanden, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist, dürfte es sogar absolut normal sein. Da bin ich mir ganz sicher.
Dann rannte sie den Hügel hinunter, an dessen Fuß sich eine kleine Gruppe von Leuten versammelt hatte. Zuerst dachte sie, dass weitere Überlebende eingetroffen wären, doch dann sah sie eine Gestalt, die zusammengesackt an der Wand der neuen Hütte lag.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, rief sie im Laufen. Pilu drehte sich um, während der Rest der Gruppe schnell vor ihrem Zorn zurückwich.
»Wir? Ich habe nur versucht, ihn zu überreden, sich hinzulegen, aber er sträubt sich mit Händen und Füßen. Ich könnte schwören, dass er schläft, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schläft!«
Sie ebenfalls nicht. Maus Augen standen zwar offen, aber Daphne hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie nicht diesen Strand betrachteten, falls sie denn überhaupt etwas sahen. Seine Arme und Beine zuckten, als wollten sie sich bewegen, konnten es jedoch nicht.
Sie kniete neben Mau nieder und legte ein Ohr an seinen Brustkorb. Dabei hätte sie ihm gar nicht so nahe kommen müssen, denn sein Herz schlug, als wollte es sich aus seinem Gefängnis befreien.
Pilu trat zu ihr und flüsterte: »Es hat Ärger gegeben!« Mit diesen wenigen Worten gelang es ihm, ihr zu verstehen zu geben, dass er den Ärger nicht ausgelöst hatte – er auf gar keinen Fall – und dass er grundsätzlich gegen jede Art von Ärger war, insbesondere dann, wenn er so kurz bevorstand. Seit dem Funkel-Lied fühlte er sich in Daphnes Nähe immer etwas unwohl.
Sie war eine Frau mit großer Macht.
»Was für Ärger?«, wollte sie wissen und sah sich fragend um.
Aber sie brauchte keine Antwort abzuwarten, weil Ataba mit wutverzerrter Miene dastand. Anscheinend war es zu einer dieser Situationen gekommen, in denen »ein Wort das andere gab«, wie sich Cook zu Hause ausgedrückt hätte.
Er stierte sie an, und sein Gesicht sah aus wie ein versohlter Hintern (ebenfalls Cooks Ausdrucksweise), dann schnaufte er und drehte sich zur Lagune um.
In diesem Moment wölbte sich das Wasser, und Milo trat triefend auf den leicht ansteigenden, weißen Sand. Auf den Schultern trug er einen Götterstein.
»Ich will wissen, was hier los ist!«, sagte Daphne. Doch niemand nahm Notiz von ihr. Alle Augen waren auf den näher kommenden Milo gerichtet.
»Hast du nicht gehört? Ich hatte dir verboten, das da aus dem Wasser zu holen!«, brüllte Ataba. »Ich bin ein Priester des Wassers!«
Milo bedachte ihn mit einem langen, ruhigen Blick und setzte seinen Weg fort. Seine Muskeln traten hervor wie geölte Kokosnüsse unter seiner Haut. Daphne hörte den Sand unter seinen Füßen knirschen, als er zu den Gottesankern hinüberstapfte und seine Last mit einem Grunzen absetzte. Der Stein versank ein kleines Stück im Sand.
Jetzt lagen dort schon vier. Das ist doch nicht richtig, dachte Daphne. Sollten es nicht drei sein, von denen einer verschwunden war? Woher kamen die anderen?
Sie beobachtete, wie sich Milo streckte und seine Gelenke knacken ließ, bevor er sich der kleinen Gruppe zuwandte. Mit der bedachten und ernsten Stimme eines Mannes, der die Wahrheit jedes einzelnen Wortes überprüfte, bevor er es aussprach, verkündete er: »Wenn irgendjemand diese Steine anrührt, wird er sich dafür vor mir verantworten müssen.«
»Der da wurde von einem Dämon gemacht!«, schrie Ataba. Er blickte sich zu den anderen um, doch von dort bekam er keine Unterstützung. Soweit Daphne erkennen konnte, hatten die Leute für keine Seite Partei ergriffen. Sie mochten es nur nicht, wenn herumgebrüllt wurde. Ihre ganze Situation war auch so schon schlimm genug.
»Dämon«, grollte Milo. »Du scheinst dieses Wort zu mögen. Dämonenjunge nennst du ihn. Aber er hat dich
Weitere Kostenlose Bücher