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Eine Insel

Eine Insel

Titel: Eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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schien sich keinerlei Sorgen zu machen. Mau sagte ihr, dass es dort wahrscheinlich Knochen gab, und sie erwiderte, dass sei völlig in Ordnung, weil Knochen ja niemanden angreifen würden, und nachdem sie die Botschaft von den Großmüttern erhalten hatte, wollte sie die Sache unbedingt zu Ende bringen, alles bestens, danke der Nachfrage.
    Sie fanden die Großväter dort, wo man gerade noch das nachlassende Tageslicht erkennen konnte, und nun verstand Mau.
    Sie waren nicht unheimlich, sondern einfach… traurig. Manche saßen noch immer genauso da, wie man sie zurückgelassen hatte, mit bis zum Kinn hochgezogenen Knien und leeren, toten Augen, die ins ferne Licht starrten. Sie waren nur noch trockene Haut und zerbröselnde Knochen.
    Wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass sie durch Papierrebenstreifen zusammengehalten wurden. Die Pflanze hatte in der Tat viele Verwendungszwecke, sogar noch nach dem Tod.
    Als das Tageslicht nur noch ein kleiner Punkt am Ende des Tunnels war, blieben sie stehen.
    »Wie viele werden das wohl sein?«, fragte sich Ataba. »Ich zähle mit«, sagte Mau. »Bis jetzt waren es über hundert.«
    »Einhundertzwei«, sagte Daphne. Und es schien kein Ende zu nehmen. Sie saßen einer hinter dem anderen, wie die älteste Rudermannschaft der Welt, die im Gleichtakt in die Ewigkeit paddelte. Manche hatten noch ihren Speer oder ihre Keule dabei, die man ihnen an die Arme gebunden hatte.
    Sie gingen weiter, und das Licht vom Höhleneingang war nicht mehr zu sehen. Die Toten zogen zu Hunderten vorbei, und Daphne kam mit dem Zählen nicht mehr mit. Ständig versuchte sie sich daran zu erinnern, keine Angst zu haben. Schließlich hatte sie einmal an einem Anatomievortrag teilgenommen und großen Spaß dabei gehabt. Auch wenn sie die ganze Zeit die Augen geschlossen hatte…
    Jedoch wurde der Anblick von Tausenden toter Männer nicht gerade leichter, wenn man sie im flackernden Licht von Atabas Lampe betrachten musste. Denn dann sahen sie so aus, als würden sie sich bewegen. Und diese Männer stammten alle von den Inseln. Das erkannte sie hauptsächlich an den verblassten Tätowierungen auf der uralten, ledrigen Haut, wie sie jeder Mann – na gut, mit Ausnahme von Mau – noch heute trug. Eine Welle, die vor dem Sonnenuntergang vorbeizog…
    »Wie lange bestattet ihr hier schon eure Toten?«, wollte sie Wissen.
    »Seit Ewigkeiten«, antwortete Mau, der vorausging. »Viele sind sogar von den anderen Inseln hierhergekommen!«
    »Bist du müde?«, wandte sich Daphne an Ataba, als Mau schon ein Stück vorausgegangen war.
    »Nicht im Geringsten, Mädchen.«
    »Es klingt, als hättest du Probleme beim Atmen.«
    »Das ist meine Angelegenheit. Nicht deine.«
    »Ich habe mir nur… Sorgen gemacht. Mehr nicht.«
    »Ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du damit aufhören würdest«, blaffte Ataba. »Ich weiß genau, was hier los ist. Es fängt mit Messern und Kochtöpfen an, und plötzlich gehören wir den Hosenmenschen. Ihr schickt eure Priester, und dann gehören uns auch unsere Seelen nicht mehr.«
    »So etwas tue ich doch gar nicht!«
    »Und wenn dein Vater in seinem großen Kanu kommt? Was wird dann aus uns?«
    »Ich… weiß es nicht«, sagte Daphne. Das war immer noch besser, als die Wahrheit zu sagen. Denn sie musste sich eingestehen, dass ihre Leute tatsächlich die Angewohnheit hatten, in fernen Ländern ihre Flagge zu hissen. Ohne weiter darüber nachzudenken, fast als wäre es eine lästige Pflicht.
    »Ha, jetzt fällt dir nichts mehr ein!«, sagte der Priester. »Du bist ein gutes Kind, behaupten die Frauen, und du tust viele gute Dinge, aber der Unterschied zwischen den Hosenmenschen und den Räubern ist, dass die Kannibalen irgendwann wieder verschwinden!«
    »Wie kannst du so etwas sagen?«, erwiderte Daphne aufgebracht. »Wir essen keine Menschen!«
    »Es gibt unterschiedliche Methoden, Menschen zu essen, Mädchen, und du bist klug genug, das zu wissen. Und manchmal erkennen die Opfer gar nicht, dass es längst passiert ist – bis sie den Rülpser hören!«
    »Kommt schnell!«, rief Mau, dessen Lampe nur ein schwacher, grüner Schein in der Ferne war.
    Daphne rannte sofort los, damit Ataba ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Ihr Vater war ein anständiger Mensch, aber dieses Jahrhundert schien in der Tat ein imperiales Spiel zu sein, in dem es keiner noch so kleinen Insel gestattet wurde, sich selbst zu gehören. Was würde Mau tun, wenn jemand auf seinem Strand eine Flagge

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