Eine Jungfrau Zu Viel
er, einschließlich der, dass sie nie mehr als drei Stufen hinaufschreiten durfte (damit man ihre Knöchel nicht sah). Sie mochte eine attraktive Frau sein, aber ich verspürte kein Verlangen, sie anzuglotzen.
Der Flamen Dialis wirkte leicht nervös. Er hatte wenigstens den Vorteil, den Plan zu kennen.
Das priesterliche Paar saß auf kurulischen Stühlen, diesen lehnenlosen Klapphockern mit geschwungenen Beinen, die formell als Amtssymbol höherer Magistrate verwendet wurden. Ein dritter Hocker stand neben dem des Flamen. Darauf saß eine vertraute Gestalt – Laelius Numentinus, obwohl er heute ausnahmsweise mal keine Priesterkluft trug. Vielleicht hatte der Besuch im Haus seines Nachfolgers ihn endlich dazu gebracht, seine verlorene Glorie abzulegen. Er war barhäuptig. Weißes Haar umgab seine Halbglatze. Plötzlich durchzuckte mich eine Erkenntnis. Ich sah rasch zu Aelianus. Auch er wusste jetzt, dass dies der hochnäsige ältere Mann war, den wir beide aus dem Haus des Meisters der Arvalbrüder hatten kommen sehen, als wir dort von der Leiche berichtet hatten. Der Mann, der sie unserer Überzeugung nach hatte überreden wollen, weiterhin über den Mord zu schweigen – der Mann, in dem wir einen nahen Verwandten der Mörderin vermutet hatten.
Mir bleib keine Zeit, weiter darüber zu grübeln. Sie schienen uns erwartet zu haben. Wir wurden mit wenig Förmlichkeit in den Raum geschoben. Die Gardisten hielten mich immer noch fest. Anacrites versuchte mit einem Wandfresko zu verschmelzen. Er sah aus wie eine sehr tote Ente auf einem Stillleben. Der junge Aelianus trat vor. Auf ein Nicken des Flamen hin hielt er eine kurze, eingeübte Rede. Sie glich im Großen und Ganzen dem Appell an die Obervestalin. Nachdem er Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, sprach er jetzt zögernder, machte seine Sache aber recht gut.
Vor einer Erwiderung beugte sich der Flamen Dialis zu Numentinus, als wollte er dessen Zustimmung einholen. Sie tauschten ein paar gemurmelte Worte aus, dann nickten sie beide. Die Prätorianer traten zurück. Der Flamen Dialis setzte sich in Positur und tat so, als würde er mich erst jetzt bemerken. Ein gut gespieltes Schaudern durchlief ihn, und er bedeckte theatralisch die Augen. Mit plötzlichem Entsetzen rief er laut: »Ein Mann in Ketten! Nehmt sie ihm in Übereinstimmung mit dem Ritual sofort ab!«
Ich glaube, dass Verbrecher manchmal formell von ihren Fesseln befreit werden, nachdem man einen Schmied gerufen hat, der die Kettenglieder aufbricht. Das muss eine befriedigende Form der Befreiung sein. Aber Anacrites war schon immer ein Geizhals. (Wofür er nichts konnte. Mittelknappheit gehörte zu seinem Beruf.) Er hatte die Fesseln ursprünglich mit einem Vorhängeschloss befestigt, und auf den Ausruf des Flamen hin schloss er es vorsichtig mit dem richtigen Schlüssel auf, damit man die Fesseln wieder verwenden konnte.
Dann wurden die Eisenwaren aus dem Raum getragen, und wir warteten alle schweigend, bis wir den Krach hörten, mit dem sie vom Dach der Flaminia geworfen wurden. Danach war leises metallisches Klirren zu hören, als man sie eilends wieder aufsammelte. Anacrites gab den Prätorianern einen Wink. Sie salutierten zackig und marschierten ab, wobei ihre Stiefel über die Dielenbretter schrammten. Die Flaminica zuckte zusammen. Vielleicht gehörte es zu ihren Ritualen, auf den Knien herumzurutschen und selbst das Bienenwachs aufzutragen. Vielleicht war sie nur eine sorgsame Hausfrau mit Respekt vor antiker Zimmermannsarbeit.
»Sie sind jetzt ein freier Mann«, bestätigte der Flamen Dialis.
»Vielen Dank«, sagte ich, an alle gewandt.
Während ich mir meine schmerzenden Glieder rieb, verkündete der Flamen von seinem kurulischen Stuhl aus mit ernster Stimme: »Marcus Didius Falco, ich habe entschieden, dass Sie eine Erklärung für bestimmte Dinge erhalten sollen.«
Er bat seine Dienstboten, den Raum zu verlassen. Er, seine Frau und Numentinus blieben. Ich auch. Und, auf eine Geste des Flamen hin, Camillus Aelianus ebenfalls. Er kam und stellte sich neben mich. Offenbar war er mit sich zufrieden, was ich ihm nicht verdenken konnte.
Aus widerwilligem Respekt für den anderen Mann, der geholfen hatte, mein Leben zu retten, sagte ich: »Ich möchte, dass Anacrites es auch zu hören bekommt.« Das wurde ihm gestattet. Er hielt sich weiterhin zurück, gab sich bescheiden. Na ja, so bescheiden, wie man als Spion mit einem fiesen Charakter eben sein kann.
Der Flamen Dialis wandte sich
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