Eine Katze kommt selten allein
kleinen roten Lieferwagen, der in der zweiten Reihe geparkt hatte und unserem Wagen den Weg verstellte. Gut, dachte ich. Jetzt spritzt wenigstens kein Matsch mehr gegen die Scheiben.
Ich schaute Jo an. Sie stand still und zufrieden da, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt.
Der rote Lieferwagen neben Jos Kombi setzte sich plötzlich in Bewegung. Ich beobachtete es ganz beiläufig und sah, wie die Sonne auf dem roten Lack funkelte. Aber irgend etwas stimmte nicht. Der Lieferwagen zog auf die linke Straßenseite, wo keine Autos parkten und wo Jo und ich uns befanden…
Der Wagen beschleunigte; das linke Reifenpaar quietschte, als es am Bordstein entlang schrammte. Der kleine rote Lieferwagen raste direkt auf uns zu.
Ich packte Jos Arm, rannte los und zerrte sie mit mir.
Ich hörte ein kreischendes, knirschendes Geräusch hinter uns. Ich versuchte, schneller zu rennen. Meine Knie schienen nachgeben zu wollen.
Ich hörte jemanden schreien. Ein Regen aus Glas prasselte klirrend auf die Straße. Dann wurde es dunkel um mich herum.
9
»Nur noch eine Treppe«, sagte ich zu Jo, als wir an einer Kurve zwischen dem dritten und vierten Treppenabsatz hockten, erschöpft und immer noch benommen. Jo trug einen dicken Verband auf der rechten Gesichtshälfte; ich hatte eine Bandage über der Stirn, genau unter dem Haaransatz.
Ich fluchte leise, als ich sah, daß bei einem der Mieter noch immer ein Weihnachtskranz an der Tür hing. Warum hatte er das Ding noch nicht abgenommen? Weihnachten war vorbei und vergessen.
Als ich zwischen den Treppenabsätzen stand und Jo festhielt, fielen mir ein paar Zeilen aus einem Theaterstück ein, in dem ich mal aufgetreten war. Eine Frau steht ihrem verhaßten Ehemann gegenüber und sagt: »Wenn mir an diesem ominösen Weihnachtsabend überhaupt etwas gefallen würde, dann die Erscheinung des Jesuskindes oder wenigstens ein Christus in einer deutlich erkennbaren Gestalt.«
Wie hieß das Stück? fragte ich mich. Der Verfasser?
Die Figuren? Ich konnte mich nicht daran erinnern – nur an das Zitat.
Vorsichtig betastete ich meinen Oberschenkel. Es tat schrecklich weh. Die Ärzte auf der Unfallstation hatten gesagt, daß nichts gebrochen sei, nur geprellt.
Die Polizei hatte uns wissen lassen, daß der Lieferwagen gegen einen Laternenpfahl geprallt sei, ein Parkschild verbeult, die Fenster des Chinarestaurants zerschmettert, einen Hydranten umgefahren und sich zweimal um die eigene Achse gedreht habe – und dann davongefahren sei. Wir hätten großes Glück gehabt. Betrunkene Fahrer würden normalerweise sich selbst und/oder Passanten töten oder zum Krüppel machen. Jo und ich wären nur Zentimeter vom Tod entfernt gewesen. »Es ist ein Wunder«, hatte ein Polizist gesagt, »daß Sie den umherfliegenden Glassplittern mit nur oberflächlichen Verletzungen entgangen sind.«
Wir machten uns auf, die letzte Treppe bis zu meiner Wohnung zu erklimmen. Jo ging voraus; ich hielt die Hände auf ihren Schultern, um zu verhindern, daß sie nach hinten kippte. Aber es hatte nichts mit Uneigennützigkeit zu tun, daß ich hinter Jo ging und ihr half – auch ich hielt mich an ihr fest. Denn als ich aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, hatte ich gesehen, daß Jos Gesicht blutüberströmt war. Umhersirrende Glassplitter hatten sie getroffen. Sogar ihr kurzgeschnittenes weißes Haar war blutbespritzt gewesen. Bei diesem Anblick war mir dermaßen schlecht geworden, daß ich jetzt noch weiche Knie hatte.
Endlich kam die Errettung: Wir taumelten in meine Wohnung und ließen uns wie Steine auf das Sofa fallen. Wir rührten uns nicht. Wir redeten kein Wort.
Draußen war es schon dunkel, und in der Wohnung brannte kein Licht. Mir wurde klar, daß ich eine Lampe einschalten mußte, doch eine Zeitlang war ich noch so fertig, daß ich nicht einmal wußte, wo sich einer der verflixten Lichtschalter befand.
Als ich den Schalter schließlich drehte und mich zurück zum Sofa schleppte, sah ich Bushy und Pancho still dasitzen, Seite an Seite. Sie beäugten mich und Jo. Was Pancho anging, übertraf er sich selbst. Er saß tatsächlich auf dem Fußboden und schien zu versuchen, die Situation einzuschätzen. Es muß an unseren Verbänden liegen, dachte ich. Bestimmt ist Pancho von dem weißen Mull fasziniert.
»Soll ich dir irgendwas holen, Jo?«
»Nichts.«
Ich schaute Pancho an. Ich sehnte mich danach, mit dieser verrückten Katze zu schmusen. Für einen Augenblick dachte ich darüber nach, ob
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