Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren
denke ich, es war meine Art, mich mit ihm gleichzustellen. Bis dahin hatte ich immer das Gefühl gehabt, etwas Besonderes für ihn zu sein. Jeden Tag kam er aus dieser geheimnisvollen Welt nach Hause und brachte mir etwas mit. Einen kleinen Baseballschläger zum Beispiel mit dem Autogramm eines berühmten Baseballspielers. Oder eine echte Honigwabe, die immer noch mit Honig durchtränkt war. Oder eine exotische Köstlichkeit, echte türkische Bonbons in einem kleinen Holzkästchen, mit Puderzucker überzogen.
Wie freute ich mich jeden Abend auf seine Heimkehr! Die Tür flog auf und da stand er. Ich rannte in seine geöffneten Arme und er schwenkte mich herum.
Der Höhepunkt aber war mein siebter Geburtstag. Ich wachte vor allen anderen auf und schlich auf Zehenspitzen ins Esszimmer. Dort auf dem schweren Mahagonitisch lag eine kleine rechteckige Armbanduhr mit braunem Lederarmband in einer schwarzen Samtschachtel. Konnte die wirklich für mich sein? Ich nahm sie hoch und hielt sie mir ans Ohr. Sie tickte! Es war keine Spielzeuguhr, sondern eine richtige Uhr, wie die Erwachsenen sie trugen. Ich rannte ins Schlafzimmer, weckte meinen Vater auf und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Gab es jemanden, der glücklicher war als ich?
Später veränderte sich die Situation. Zuerst bemerkte ich gar nicht, was passierte. Vermutlich war ich zu beschäftigt mit der Schule und damit, neue Freunde zu finden. (Wir zogen alle zwei Jahre um auf der Suche nach einer billigeren Wohnung.)
Die Flut der Mitbringsel versiegte. Kein Baseballschläger und keine Honigwaben mehr. Mein Vater verschwand langsam aber sicher aus meinem Leben. Er kam spät nach Hause, lange nachdem ich zu Bett gegangen war. Und er kam mit leeren Händen. Ich vermisste ihn sehr, aber ich hatte Angst, etwas zu sagen. Ich hoffte, er würde auf genauso geheimnisvolle Art zu mir zurückkehren, wie er verschwunden war. Auf jeden Fall durften sich große Jungen nicht nach ihrem Vater sehnen.
Jahre nachdem er gestorben war, sprach meine Mutter darüber, wie sehr die Weltwirtschaftskrise „das Leben aus ihm herausgepresst“ hat. Sie hatte seinen Traum vom „großen Mann“ zerstört. Er hatte kein Geld mehr für Mitbringsel. Er hatte keine Zeit mehr für mich.
Es tut mir jetzt leid. Ich sehe sein Foto an und seine braunen Augen und ich wünschte, er wäre heute hier. Ich würde ihm sagen, was mit mir passiert und über Dinge sprechen, die ihn vielleicht interessierten – über Politik, Ereignisse aus dem Ausland – und ihn fragen, wie das Geschäft läuft. Ich würde meine Arme um seinen Hals legen und sagen: „Papa, du brauchst mir nichts mitzubringen – komm nur früh nach Hause.“
Und ich würde ihm einen Kuss geben.
Howard Mann
Der Zufluchtsort
Ein einfaches Holzhaus mit einer roten Scheune stand an einen Berg geschmiegt. Von dem Felsplateau, auf dem das Haus gebaut war, konnte man auf einen klaren Fjord hinuntersehen. Es gab nur einen Ausblick – den Blick nach vorne, gesäumt von den hohen Bergen an dem schmalen Meeresarm, der sich zwischen diesen imposanten Steinmauern hindurchwand.
Beschützt vor den Stürmen kuschelte sich das robuste Haus an den Felsen. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, ich sei ein Teil dieses Zufluchtsortes, nur ein Fleck, umgeben von der majestätischen Schönheit Norwegens, dem Land der Mitternachtssonne. Auf einer grünen Fläche war ein Garten angelegt, während sich unten im kalten, klaren Wasser die Fische tummelten. Versteckt in der Felsspalte meiner Vorstellungskraft wagte ich von einer lang vergangenen Zeit zu träumen, als mein Volk aus dem Land der Mitternachtssonne kam.
In der Höhle meiner Fantasie fragte ich mich, ob es unter ihnen wohl ein kleines Mädchen gegeben hat, das aussah wie meine jüngste Enkelin Kathryn Elise, mit langen blonden, seidenweichen Haaren und tiefblauen Augen. Vielleicht hatte es eine „Katie“ mit einer lebhaften Fantasie gegeben, die sich auf einen Felsvorsprung gesetzt und von einem weit entfernten Ort hinter den Bergen geträumt hat. Träumte sie davon, Bücher zu schreiben oder die Berge, den Himmel und das Meer mit ihren Pinseln und Ölfarben auf einer Leinwand einzufangen? Wie oft stieg sie wohl die Steinstufen hinab, um mit ihrem Vater Fische zu fangen oder wieder hinauf, um sich um den Garten, die Ziegen und Hühner zu kümmern? Hatte sie vielleicht davon geträumt, dass irgendwann in den Fluren der Zeit jemand auf Schiffen zu dieser damals noch unbekannten Welt,
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