Eine Klasse für sich
Gespräch.
»Sie kennen Lord Belton?«, erwiderte sie ohne jeden Anflug eines Lächelns. Vermutlich ein Hinweis, ich solle gefälligst seinen korrekten Titel benutzen. Auf einem Beistelltisch in der Nähe stand ein Schälchen mit Avocadodip, und eine Sekunde lang überkam mich der nahezu unwiderstehliche Drang, es zu nehmen und ihr ins Gesicht zu klatschen.
Stattdessen machte ich den Mund auf, und mir lag schon auf der Zunge: »Klar kenne ich ihn, und Sie kenne ich auch, Sie alte Schrulle.« Aber derlei hat wenig Stil, nicht wahr? Sie hätte sich nur über meine »grässlichen Manieren« entrüstet und ihre eigene Schuld weit von sich gewiesen. Ich bekam sie nicht als Tischdame, halleluja, und konnte mitfühlend beobachten, wie Hugh Purbrick gegen ihr Schweigen ankämpfte und sie in ein Gespräch zu verwickeln suchte – über Leute, die sie kennen musste, aber zu kennen leugnete, oder über Themen, an denen sie sofort äußerstes Desinteresse bekundete. Kurz, auch mit ihm kannte sie kein Erbarmen.
Kindern wurde früher oft erzählt, Parvenüs und andere Außenseiter seien gelegentlich unhöflich, echte Ladys und Gentlemen aber stets die Höflichkeit in Person. Das ist natürlich Unsinn. In jeder Gesellschaftsschicht finden sich Unhöfliche wie Höfliche, aber eine bestimmte, sehr schwer erträgliche Form der Grobheit bleibt allein der
Oberschicht vorbehalten. Sie nährt sich von plattestem Snobismus, vom Vollgefühl einer Überlegenheit, das jeder Grundlage entbehrt. Die alte Lady Belton war das klassische Beispiel, ein wandelndes Sammelsurium von Scheinwerten, eine taube Nuss, ein guter Grund zur Revolution. In meiner Jugend war sie mir unsympathisch gewesen, aber nun, vierzig Jahre später, fand ich sie schlimmer als nur unangenehm und dumm, sondern erkannte in ihr eine Bösartigkeit, die für die Lebensleere ihrer Kinder verantwortlich war. Es gibt vieles, was in mir die Sehnsucht nach dem England meiner Jugend weckt, vieles, was uns zu unserem Nachteil verloren gegangen ist, aber manchmal muss man auch festhalten, was schlecht und damit veränderungsbedürftig war. All das ließ sich an Lady Belton aufs Schönste ablesen; sie vereinte in sich sämtliche Mängel des alten Systems, aber keine einzige seiner Tugenden. Hass widerstrebt mir, aber an jenem Abend begann ich sie fast zu hassen, wegen allem, was sie repräsentierte, und wegen ihrer Schuld an Andrews Charakterlosigkeit. Wenn ich – was mir schwerfällt – gnädig über ihn urteilen soll, muss ich ihm zugestehen, dass er mit einer solchen Mutter nie eine Chance hatte. Diese beiden schrecklichen Menschen hatten das Leben meiner Serena vertan. Andrew saß beim Dinner übrigens auf der anderen Seite von Lady Belton, da sie ihrem Rang gemäß zu seiner Rechten platziert war. Sie wechselten kein einziges Wort, von der Suppe bis zu den Nüssen. Für beide kein Verlust.
Danach fanden sich einige Gäste zu einer Bridgepartie zusammen, andere schlichen davon, um sich einen Film im Spätprogramm anzusehen, in einem chaotischen, winzigen Kinderzimmerchen, wohin Andrew den Fernseher, dieses »widerliche Gerät«, verbannt hatte. Und nachdem die Gäste aus der Umgebung nach Hause gefahren und die Hausgäste zu Bett gegangen waren, fand ich mich mit Candida in einer Ecke der Bibliothek wieder. Mit einem Glas Whisky in der Hand saßen wir plaudernd vor dem langsam herunterbrennenden Kaminfeuer. Serena hatte hereingeschaut und uns mit Getränken versorgt, musste sich dann aber den anderen widmen, und mir genügte es zuzusehen, wie sie ihre Rolle ausfüllte und mit Verpflichtungen, die ihren Tagen Gestalt gaben, ihren Lebensweg absteckte.
Es war mir sehr recht, mit Candida allein zu sein, damit ich meine Nachforschungen fortsetzen konnte. Ich hatte ihr von dem Foto erzählt, das ich in meinem Zimmer entdeckt hatte, und nun unterhielten wir uns ausgiebig über jenen Ball, seine Glanzpunkte und sein Ende. Ich erwähnte, dass ich einen ziemlich düster gestimmten Damian nach Hause gefahren hatte, der seine Karriere als Schwarm der Debütantinnen für beendet erklärte. »Der arme Damian«, sagte sie. »Noch nie hat mir jemand so leidgetan.«
Das war nun doch ein unerwarteter Kommentar; ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. »Warum denn das?«
Meine Frage war für sie genauso überraschend. »Ich bitte dich, nach dem ganzen Drama«, erwiderte sie, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit der Welt.
»Was für ein Drama denn?«
Sie sah mich zweifelnd
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