Eine Klasse für sich
ließ; der innere Zirkel rekrutierte sich nach wie vor aus dem traditionellen Personenkreis. Und innerhalb dieses Zirkels ließen sich klar verschiedene Abstufungen erkennen.
Lucy Dalton war die jüngere Tochter eines Baronet, Sir Marmaduke Dalton, dessen Vorfahr seinen Titel Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erhalten hatte, als Dank für seine im Übrigen unspektakulären Dienste für die Krone. Die Familie besaß immer noch bedeutende
Güter in Suffolk, doch der Herrensitz selbst war seit den Dreißigerjahren vermietet und beherbergte eine exklusive Mädchenschule. Die Daltons lebten einigermaßen zufrieden im ehemaligen Witwenhaus, von dem aus sie durch die Bäume gerade noch den Schauplatz ihres früheren Glanzes erblicken konnten, zwischen Lacrosseplätzen und Fertigbauten mit Klassenzimmern. Kurz und gut, ideal war das Ganze nicht.
Heute bin ich mir bewusst, dass Lucy durchaus privilegiert aufgewachsen ist. Aber die meisten vergleichen sich mit Menschen, die in ähnlichen Umständen leben wie sie selbst, und ich möchte den Leser um Nachsicht bitten, wenn ich sage, dass Lucys Herkunft in unserer Clique damals nicht so bemerkenswert erschien. Ihre Familie hatte einen unbedeutenden Titel und lebte in ihrem hübschen Witwenhaus ziemlich genauso wie wir alle in unseren Pfarrhäusern, Herrenhäusern und Gutshäusern. Der große Unterschied bestand in unseren Augen zwischen denjenigen, die ein solches »normales« Leben führten, und denjenigen, die immer noch so lebten wie unsere eigenen Familien vor dem Krieg. Diese Überlebenden waren unsere Flaggschiffe, die bessere Tage verkörperten, unsere anerkannten gesellschaftlichen Leitfiguren. Ihr Lebensstil mit Dienerschaft und prächtigen Salons erschien uns geradezu märchenhaft im Vergleich zu unserem Leben, in dem die Väter arbeiteten und die Mütter kochen lernen mussten. Ein wenig jedenfalls. Wir waren die Normalen, sie waren die Reichen, was ich erst viele Jahre später zu hinterfragen begann. Zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass kaum jemand seinen Lebensstil als exzessiv oder hedonistisch erkennt – solche Etiketten klebt man immer nur den erheblich Reicheren auf. Und so hielt sich auch Lucy lediglich für ganz gut situiert und nicht mehr.
Für mich jedenfalls war sie ein fröhliches Mädchen, hübsch, aber nicht schön, amüsant, aber nicht faszinierend. Wir hatten uns letztes Jahr beim Besuch eines Benefizballs kennengelernt. Und als wir feststellten, dass wir beide die Saison mitmachen wollten, war es nur natürlich, dass wir uns weiter aufeinander zubewegten, da man sich in einer neuen und leicht strapaziösen Umgebung automatisch zu jedem
freundlichen, vertrauten Gesicht hingezogen fühlt. Offen gestanden hätte ich mich durchaus in sie verlieben können, wenn ich anfangs vorsichtiger gewesen wäre, aber ich habe meine Chance verpasst, weil ich eine Freundschaft zwischen uns entstehen ließ – fast immer Gift für romantische Gefühle.
»Wer ist eigentlich der Kerl, den du uns da aufs Auge gedrückt hast?«, fragte sie während eines wilden Schlenkers, mit dem sie einem weiteren fidelen Rempler von Lord Richard auszuweichen versuchte.
»Ich wüsste nicht, wem ich ihn aufs Auge gedrückt haben sollte.«
»Uns allen. Er war noch keine zwanzig Minuten hier, da haben schon vier Mädels seine Adresse notiert. Ich mal davon aus, dass Mr. Townend ihn nicht protegiert?«
»Nicht direkt. Ich habe ihn letzte Woche zu einer von Peters Partys mitgenommen, und einen Moment lang dachte ich, wir fliegen beide hochkant raus.«
»Warum hast du ihn überhaupt mitgenommen? Ist er denn dein Protegé?«
»Ich glaube, letzte Woche war mir das noch gar nicht klar.«
Sie lächelte mich ziemlich mitleidig an.
Wahrscheinlich trieb mich der halb unbewusste Wunsch, die Lüge, die ich Georgina aufgetischt hatte, aus der Welt zu schaffen, indem ich sie wahr machte: Als sich die Party aufzulösen begann, trommelte ich etwa acht Leute zu einem Dinner zusammen, und bald stiegen wir die steile Souterraintreppe ins Haddy’s hinunter, damals ein beliebter Treff an der Old Bromptom Road, wo man ganz gut essen und danach die Nacht durchtanzen konnte, alles für etwa dreißig Shilling pro Nase. Wir verbrachten dort oft ganze Abende mit Essen, Reden und Tanzen. Ein Lokal, in dem das alles möglich wäre, kann man sich heute kaum noch vorstellen, wenn man an die grausame, geradezu barbarische Lautstärke der Musik denkt, zu der jetzt getanzt wird. Vermutlich begann
Weitere Kostenlose Bücher