Eine Klasse für sich
an Unverschämtheit, da der englische Adel damals noch gern den Anschein aufrechterhielt, berufliche Aktivitäten seien von geringem Interesse und dienten ausschließlich persönlichem Vergnügen. Aber Lady Dalton war natürlich dabei, mich als potenziellen Bewerber abzuklopfen.
»Er ist Diplomat. Aber jemand wie ich ist im Auswärtigen Amt nicht mehr gefragt, selbst wenn ich seinem Beispiel gerne folgen würde. « Was mehr oder weniger stimmte. Das Auswärtige Amt hatte in den Sechzigerjahren beschlossen, dass die Zeit des Botschafters aus ersten Kreisen vorüber und das Amt anderen gesellschaftlichen Schichten zu öffnen sei, wahrscheinlich, damit die Nachkriegsintellektuellen es ernster nahmen. Vielleicht verlagerten sich auch die politischen Loyalitäten. Vierzig Jahre später sehen wir das Ergebnis dieser Politik mit gemischten Gefühlen, vor allem, da das restliche Europa diesem Weg nicht gefolgt ist. Der britische Botschafter gilt in den Hauptstädten der Welt als Sonderling, sowohl im Corps diplomatique als auch in der guten Gesellschaft seines jeweiligen Einsatzorts. Man würde meinen, dies verringere unseren althergebrachten Einfluss hinter den Kulissen. Aber womöglich war ja genau das die Absicht.
Lady Dalton nickte. »Ich bin ja sehr gespannt, in welche Richtungen ihr euch alle bewegen werdet.« Damit endete die Musik, und ich führte meine Tanzpartnerin zum Tisch zurück. Sie war eine liebenswürdige Frau, und wir begegneten uns stets freundlich, solange sich unsere Pfade kreuzten, aber ab diesem Moment hatte sie jedes Interesse an mir verloren.
Gegen ein Uhr früh trat der Bandleader ans Mikrofon und forderte uns auf, uns für den Galopp zu Paaren zusammenzufinden. Das war das Signal für das Ende des Balls. Es scheint unglaublich, dass wir, die Generation der Swinging Sixties, immer noch viele Partys mit dieser spätviktorianischen Tollerei beendeten, im Grunde nur ein Vorwand, öffentlich vorzuführen, wie betrunken man war. Man packte ein bedauernswertes Mädchen und raste annähernd im Takt
zur Wum-ta-ta-Musik kreuz und quer durch den Saal, rempelte andere Paare an, stürzte, brüllte herum und markierte überhaupt den tollen Hecht. Es hatte aber auch etwas Verzweifeltes, ja traurig Einsames, alle diese kreischenden Mädchen vom Lande zu sehen, die zusammengesunkenen Locken, die Risse in den Kleidern, die zerlaufene Schminke und die schweißglänzenden roten Wangen. Jedenfalls wurde der Galopp auch 1968 von uns ausgelassen getanzt, und damit ging der Queen Charlotte’s Ball für ein weiteres Jahr zu Ende.
Die Wohnung meiner Eltern lag im Erdgeschoss eines großen Hauses in Wetherby Gardens in South Kensington. Wie bei der Londoner Wohnung der Daltons war der ehemalige Speisesaal eines viktorianischen Bürgerhauses in ein Wohnzimmer, eine Diele und in unserem Fall auch noch in eine Küche aufgeteilt worden. Unser dunkles, enges Esszimmer hatte wohl einst als Bibliothek gedient, und was früher ein hübscher Salon gewesen sein muss, mit Blick auf den kleinen, zur Wohnung gehörenden Garten und die großen Grünanlagen dahinter, war in zwei Schlafräume zerstückelt worden. Die dünne Trennwand war etwas ungeschickt angelegt, aber wenigstens hatten beide Räume eine schmale Tür und ein halbwegs vernünftiges Fenster abbekommen. Wie viele Menschen ihrer Generation stellten meine Eltern an ihre Behausung seltsam geringe Ansprüche. Als wir später in den Siebziger – und Achtzigerjahren Wände herausbrachen, Badezimmer verlegten und Speicher ausbauten, sahen sie halb staunend, halb entsetzt zu. Vor allem mein Vater glaubte, wenn Gott dieses oder jenes Regal lieber an einer anderen Stelle gehabt hätte, dann hätte er das auch veranlasst, und wer war mein Vater, um sich der göttlichen Vorsehung zu widersetzen? Ein eigenartiger Defätismus, wo doch unsere Vorfahren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert nichts dabei fanden, uralte Familiensitze niederzureißen und etwas Modischeres hinzustellen. Vielleicht hat diese Haltung mit der Rationierung und der Not im Krieg zu tun.
Ich war schon im Bett, als mich das wiederholte Klingeln der Türglocke aus dem Tiefschlaf riss. Eine Weile träumte ich von Kirchenglocken,
aber als das Läuten nicht aufhören wollte, wachte ich vollends auf.
Damian überschlug sich vor Entschuldigungen. »Es tut mir ja so leid. Ich hätte dich um einen Schlüssel bitten sollen. Aber ich dachte, du kommst sowieso mit uns mit.«
»Wo wart ihr denn?«
Er zuckte lässig
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