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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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weichgespült, ihre Aufmüpfigkeit salonfähig, ein Bejubeln aller Werte, die an dem Ast sägten, auf dem sie saß – aber alles mit einem frechen Grinsen. Das kam gut an und machte sie bekannt; im Lauf der Saison posierte sie für Fotos im Gesellschaftsteil des Tatler , der sich heute liest wie Botschaften aus dem Vergessenen Land : »Die Debütantinnen des Jahres«, »Aktuelle Mode«, »Die jungen Trendsetterinnen« und so weiter. Lord Lichfield fragte an, ob er sie fotografieren dürfe – er durfte. Auch erinnere ich mich deutlich an einen inzwischen vergessenen Talkmaster (ein damals brandneues Konzept), der sie zu seiner Show einlud. Natürlich lehnte Lucy auf Drängen ihrer Mutter ab, aber allein die Einladung verlieh ihr einen gewissen Nimbus.

    Diese überschäumende Spaßphase hatte in dem traurigen, müden Gesicht keine Spur hinterlassen. Lucy trug ihr Haar immer noch schulterlang, aber es hing nun grau, dünn und strähnig herunter. Ihre einst schräge Garderobe war nur noch alt. Alte Jeans, altes Hemd, alte, abgestoßene Schuhe, nichts weiter als Mittel, ihre Blöße zu bedecken. Selbst ihr Make-up war nicht mehr als ein müdes Zugeständnis an ihre Weiblichkeit. Sie nickte zum Haus hinüber. »Komm rein.«
    Nach diesem ersten Eindruck stellte ich fast erleichtert fest, dass die Zeit Lucy nicht etwa zu kleinbürgerlicher Häuslichkeit bekehrt hatte. In der Diele sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen und die Besitztümer der Familie auf neue, unlogische Plätze geschleudert. Eine gewisse Art von Unordnung lässt sich nicht allein durch Schlamperei erklären; es gibt Häuser, deren Durcheinander eine gewisse Wut, einen Protest gegen die bestehende Ordnung ausdrückt, und ich mache Lucy gern das Kompliment, ihres dazuzuzählen. Die Einrichtung stammte aus der schlimmsten Phase der Siebzigerjahre, kühne, bedrückende Tapetenmuster in Braun und Orange, gerahmte Filmplakate, viel Rattan und indische Textilien. Dazu passte die Fichtenholzküche mit Terracottaboden und gefliesten Arbeitsflächen, deren Fugen schwarz waren vor Dreck. An den Wänden standen meterweise Regale mit unzähligen, bunt zusammengewürfelten Kaffeebechern, Fotos von den Kindern, dekorativen »Objekten«, vor Jahren als Tombolagewinne ins Haus gewandert, Zeitschriftenseiten, herausgerissen aus einem längst vergessenen Grund. Und überall war es schmutzig. Lucy blickte sich um und sah alles mit neuen Augen, wie man es tut, wenn ein Fremder kommt. »Ach herrje, hier sieht’s ja aus, richtig peinlich. Ich gieß uns schnell einen Drink ein, und wir verschwinden.« Sie suchte in dem großen Kühlschrank herum, fand eine halb leere Flasche Pinot Grigio, holte unter der Spüle zwei verdächtig trübe Gläser hervor, und ging mir voran in ein Zimmer, das einmal die blitzsaubere »gute Stube« der Bauersfrau gewesen sein musste, bevor die Welt anfing kopfzustehen.
    Hier machte sich die Tristesse des Zerfalls noch stärker bemerkbar als in den anderen Räumen. Auf den durchgesessenen Sesseln und
Sofas, alles Einzelstücke, lagen schlappe Häkeldecken, das Bücherregal war aus Brettern und Ziegelsteinen zusammengebaut. Über dem Kamin hing etwas schief ein recht ansehnliches Porträt einer jungen Frau um 1890, ein unerwartetes Statussymbol aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort. Im angestoßenen Rahmen klemmten zwei Einladungen und eine Rechnung. Lucy folgte meinem Blick. »Das hat mir meine Mutter geschenkt. Sie dachte, das Wohnzimmer würde damit etwas normaler aussehen.« Sie beugte sich vor und rückte das Bild gerade.
    »Wer ist die junge Dame?«
    »Meine Urgroßmutter, glaube ich. Sicher bin ich nicht.« Einen Moment lang dachte ich an diese Lady Dalton aus früheren Zeiten, die vom Reiten nach Hause kam, sich zum Mittagessen umkleidete, von den Rosensträuchern die welken Blüten abknipste. Was würde sie von ihrer Rolle in dieser Müllkippe halten?
    »Wo ist Philip?«
    »Der muss leider den Laden hüten. Er kann schlecht weg. Ich mach dir was zu essen, dann gehen wir zusammen rüber.« Sie trank einen Schluck Wein.
    »Wie läuft der Laden denn so?«, fragte ich mit einem breiten Lächeln, angestrengt um Munterkeit bemüht. Schwer zu sagen, ob ich Lucy oder mich selbst damit aufheitern wollte.
    »Ach, ganz gut.« Sie lächelte ausweichend. »Glaub ich wenigstens. « Offenbar ging wieder eine von Philips Unternehmungen den Bach runter. »Mit einem Laden ist man ja so angebunden. Bevor wir anfingen, dachte ich, dass dauernd

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