Eine Klasse für sich
anboten, war für uns keineswegs der erste Alkohol des Abends. Zwar hielt es auch Ende der Sechzigerjahre niemand für ratsam, sich volltrunken ans Steuer zu setzen, aber es sollte noch lange dauern, bis solche Bedenken das Gesellschaftsleben prägten. Die Frage »Wer von euch trinkt heute Abend?« hätte jedes eingeladene Paar verblüfft; »wir beide«, hätten sie unweigerlich geantwortet.
Die Veranstalterin eines Balls hatte daher keine Skrupel, diverse Freundinnen zu bitten, ihre Ballgäste vorab zum Dinner einzuladen. Später in der Saison fanden mehr Bälle auf dem Land statt; dann wurden die Gäste, in der Regel lauter Fremde, bei den im Umkreis wohnenden Freunden der Gastgeber nicht nur verköstigt, sondern auch für die Nacht untergebracht. Mit dem Ergebnis, dass die Ballteilnehmer zu nächtlicher Stunde betrunken auf den Landstraßen herumkurvten. In London ließ sich das alles einfacher regeln.
Schmeichelhaft war es, von den Eltern der jeweiligen Debütantin des Abends vor dem Ball auch zum Dinner geladen zu werden, aber das passierte (mir jedenfalls) nicht allzu oft. Meist flatterte eine nette kleine Karte durch den Türschlitz, deren Verfasserin davon ausging, man besuche den Ball für XY, und sich »sehr freuen« würde, wenn man vorher bei ihr speiste. Nach diesem Dinner, das meist ziemlich feuchtfröhlich, auf jeden Fall angeheitert endete, stiegen wir beschwingt in unsere Autos und brausten zum eigentlichen Ort des Geschehens. Die Vorzüge dieses Systems lagen auf der Hand: Die Jugend freute sich, dass die Tanzerei bis in den frühen Morgen dauerte, weil sie ja erst gegen elf begann. Und die ältere Generation schonte ihren Geldbeutel. Die Eltern des betreffenden Mädchens mussten einen Ballsaal mieten, zumindest in London, und auch auf dem Land erwartete man ein Festzelt, wenn kein wirklich großes Haus zur Verfügung stand. Dazu kamen noch die Musik und ein opulentes Frühstück am Ende des Fests, aber wenigstens ersparten sich die Gastgeber das Essen und den Wein für drei-, vierhundert hungrige junge Leute. Kein Wunder, dass die Väter von diesem Brauch begeistert waren.
Nach gebührender Würdigung der perfekten Kulisse begab ich mich in den Ballsaal, wo der Eindruck wirklich überwältigend war. Damals lud man zu solchen Bällen stets auch einige ältere Gäste ein, etwa die Paten der Debütantin, Verwandte und enge Freunde der Eltern. Sie hielten sich eher im Hintergrund, plauderten in einem anderen Raum, sahen den Kindern beim Tanzen zu, wagten sich ab und zu selbst aufs Parkett, um zur Popmusik einen Foxtrott oder Quickstepp hinzulegen, und zogen sich dann früh zurück. Mehr wurde
von ihnen auch nicht erwartet. Denn wie wir alle wissen, ist und bleibt der Anblick tanzender Eltern für die Jugend eine Qual, zumal bei Kostümbällen, denen keiner über dreißig noch viel abgewinnen kann. Das war zu unseren Zeiten nicht anders. Die Älteren kamen einfach in Abendgarderobe, vielleicht noch mit einem witzigen kleinen Hinweis auf das Motto, getragen als Anstecknadel oder Haarschmuck. Nicht so bei Dagmars Ball. Ob aus Respekt vor der Großherzogin oder aus Angst vor ihr – ich tippe eher auf Letzteres –, war jeder Gast, ob jung oder alt, kostümiert. Besonders amüsant fand ich es, dass mehrere Mütter und Väter Kostüme aus einer etwas früheren Epoche gewählt hatten als die Jugend – vielleicht auf Anweisung von oben? Männer mit Perücke und Jabot, Damen mit hoch aufgetürmten Puderfrisuren und Schönheitspflästerchen versetzten uns ins Ancien Régime zurück und gaben sich als die ältere Generation von damals, die ebenfalls schon stirnrunzelnd auf ihre moderne Jugend geblickt hatte. Es amüsiert mich immer wieder, dass die Ära von Versailles und Marie-Antoinette beim Adel ein so beliebtes Ballmotto ist. Offenbar hat man vergessen, dass diese Zeit für die Privilegierten insgesamt kein so gutes Ende nahm, wurden doch etliche von der Guillotine um einen Kopf kürzer gemacht.
»Als was bist du denn da?« Lucy trug ein blütenweißes Empirekleid im Jane-Austen-Stil, ein Band um den Hals und winzige weiße Seidenröschen in den künstlichen Locken. Sie sah damit eher raffiniert als unschuldig, gleichwohl aber bezaubernd aus.
»Ich bin ein Husar«, antwortete ich leicht ungehalten. »Ich hätte gedacht, das sieht man.«
»Die Hose stimmt nicht.«
»Na danke, sehr freundlich.« Die Hose stimmte tatsächlich nicht, aber der Rest meines Kostüms war perfekt, scharlachrot und reich
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