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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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ihn zum Einkleiden narkotisiert. Vielleicht hatte man das ja getan. Sein als Gardeoffizier kostümierter Sohn starrte unbewegt geradeaus. Er hätte für eine frühe Daguerrotypie posieren können, für die man minutenlang reglos verharren musste. Sein nichtssagendes, pickeliges Gesicht strahlte eine gelangweilte, alles und jeden umfassende Bonhomie aus.
    Die Tochter Dagmar, der eigentliche Star des Abends, machte einen glanzlosen, sogar ein wenig verschreckten Eindruck. Das zierliche Geschöpf maß gerade mal eins zweiundfünfzig. Zwar heißt es immer, dass Königin Victoria mit ihren eineinhalb Metern Körpergröße ein Empire zu leiten verstand, aber für die meisten von uns ist das doch sehr, sehr klein und bedeutet, dass man das ganze Leben lang zu den anderen hochblicken muss. Dagmar verschwand fast im Schatten ihrer Mutter. Unansehnlich konnte man die kleine Prinzessin nicht nennen, nur ließ sich ihr blasses Gesichtchen schwer beschreiben oder einordnen. Direkt hübsch war sie zwar nicht, aber ihre großen Augen zogen den Betrachter in Bann. Ihre weichen, feuchten, leicht geöffneten Lippen zitterten meist ein wenig, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und so fand man sie rührend. Aber sie schien keine Ahnung zu haben, wie man sich vorteilhaft präsentiert. Ihr dunkles, glattes Haar hätte sich mit etwas Fantasie sicher hübsch frisieren lassen, doch es hing nur herab wie eilig gewaschen und an der Luft getrocknet. Für ihren eigenen Ball hätte man sie wirklich mal attraktiv ausstaffieren können, aber wie üblich hatte keiner daran gedacht. Ihr Kleid stammte aus der korrekten Epoche, war aber langweilig und wurde von der schmalen blauen Schärpe unter ihrem bescheidenen Dekolleté nur wenig belebt. Offen gestanden sah sie aus, als hätte sie sich nur fünf Minuten Zeit genommen, um sich für eine Partie Tennis zurechtzumachen, und als genügte ein kräftiger Windstoß, um sie aus dem Fenster hinaus – und die Park Lane hinunterzuwirbeln.
    Von ihrer Mutter ließ sich das nicht behaupten. Bis heute weiß ich nicht, ob die Großherzogin die ursprüngliche Herzogin von Richmond
verkörpern wollte. Das wäre dem Motto nach logisch gewesen, aber ihr Kostüm hätte besser zu einer Kaiserin wie Katharina der Großen oder Maria Theresia gepasst. Viele Meter Chiffon wallten hierhin und dorthin, von den mehr als üppigen Schultern floss, nein flutete eine Kaskade von goldbesticktem purpurnem Samt und warf sich zu ihren Füßen zu Hügeln und Dünen auf, der Hermelinbesatz eine Art Sockel, der den Blick auf die gewaltige, majestätische Gestalt lenkte. Auf ihrem Bollwerk von Busen flammten Brillanten, und über ihrer leicht schwitzenden Stirn erhob sich eine Tiara wie eine funkelnde Krone. Vermutlich trug sie den gesamten Rest der moldauischen Kronjuwelen oder vielleicht auch Talmi aus dem Kostümverleih; jedenfalls stahl sie ihrer ganzen Familie die Schau, sodass für die anderen nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig blieb, am allerwenigsten für die arme Dagmar. Sie hatte wohl nichts anderes erwartet und schien auch nicht verärgert, weil alle um ihre Mutter herumschwirrten; der Großherzog und der Kronprinz dagegen sahen aus, als würden sie am liebsten nach Hause gehen. Unsere Namen wurden laut verlesen.
    »Guten Abend, Ma’am.« Ich verbeugte mich, und sie nahm meine Reverenz huldvoll entgegen. Ich trat vor den Großherzog. »Königliche Hoheit.« Wieder verbeugte ich mich. Er nickte mit leerem Blick, seine Gedanken schweiften wahrscheinlich in längst vergangene Zeiten ab, zu einem Empfang bei Hofe in der dunklen, staubigen Hauptstadt. Ich überließ ihn seinen Gedanken und mischte mich unter die Menge. Rückblickend glaube ich, dass ich an jenem Abend zum ersten Mal etwas begriff, was mir dann immer öfter auffiel. Bei den Aristokraten, auch solchen königlichen Geblüts, lassen sich einige nach außen ähnliche und dennoch ganz unterschiedliche Gruppen ausmachen (das heißt, wenn sie sich nicht überhaupt aus dem System verabschiedet haben).
    Die erste Gruppe, Zielscheibe unzähliger Satiriker, hat klar erkannt, dass sich die Welt ihrer Jugend und Vorfahren verändert hat und nie wieder so sein wird wie früher – und weint ihr nach. Die Köche und Kammerdiener, Zofen und Bediensteten, die das Leben so überaus angenehm machten, werden nie wieder aus den Tiefen
des Dienstbotenbereichs auftauchen und ihren täglichen Aufgaben nachgehen. Die lächelnden Stallburschen, die vormittags um zehn die Pferde

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