Eine Klasse für sich
betresst, dazu ein pelzbesetzter Umhang, der unter der Achsel und an der Schulter befestigt war. Ich fand, ich sähe fabelhaft aus. »Für 1815 ist die Hose nicht korrekt, wohl aber für 1850. Ich konnte nichts Besseres auftreiben. In London war schon alles abgegrast, deshalb musste ich nach Windsor und bin dort in den Theaterfundus eingefallen.«
»So siehst du auch aus.« Sie hörte auf zu sticheln und sah sich im Saal um, der sich langsam füllte. »Wo warst du zum Dinner?«
»In der Chester Row. Bei den Harington-Stanleys.«
»Gut?«
»Na ja, ein Essen wie ein Jagdpicknick, in einer rostigen Keksdose nach London transportiert. Aber sonst war’s ganz lustig. Und bei dir?«
Sie verzog das Gesicht. »Mrs. Vitkov. In diesem neuen französischen Lokal in der Lower Sloane Street. Wollte in kleiner Runde ihre Tochter Terry vorstellen.«
»Im Gavroche?«
»Genau.«
»Hast du ein Glück!«
Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Kennst du Terry Vitkov ?«
»Noch nicht.«
»Da hast du nichts verpasst.«
»Wo kommen die Vitkovs eigentlich her? Vom Balkan?«
»Aus Cincinnati. Miss Terry ist vielleicht ein Kaliber, kann ich dir sagen.« Sie brach ab und lächelte verschwörerisch. »Vorsicht. Da kommt sie.« Ich drehte mich um und sah sofort, jede Sorge war überflüssig. Terry Vitkov hatte nichts dagegen, dass wir über sie redeten, sie schien sogar daran gewöhnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie sah gut aus. Hätte sogar sehr gut ausgesehen, wären nicht Kinn und Nase leicht vorgesprungen und hätten im Profil ein wenig an den Mann im Mond erinnert. Dies und der stechende Blick ihrer stark geschminkten Augen verliehen ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit einem entsprungenen Sträfling, der den Raum verzweifelt nach Verfolgern respektive Fluchtmöglichkeiten absucht. Heute Abend trat sie nicht wie alle anderen weiblichen Gäste als grande dame vergangener Zeiten auf, sondern als Kurtisane. Tatsächlich war sie die Einzige im Saal, die von der echten Herzogin von Richmond ganz sicher nicht auf die Gästeliste gesetzt worden wäre. Sie steuerte auf uns zu, und Lucy musste uns vorstellen.
»Lucy hat mir alles aufgezählt, was man tun und lassen muss,
wenn man in London vorankommen will. Und alle Fettnäpfchen, in die man auf keinen Fall treten darf.« Sie redete mit atemloser Dringlichkeit, entschlossen, auch noch dem leichtesten Salongeplänkel etwas Bedeutungsvolles aufzudrücken. Obwohl sie häufig ein Lächeln aufblitzen ließ, zweifellos, um sich ein Flair fröhlicher, mädchenhafter Koketterie zu geben und gleichzeitig ihre wunderbar weißen, wenn auch etwas großen Zähne vorzuführen, sah ich sofort, dass sich Terry Vitkov furchtbar ernst nahm.
»Alle wohl kaum«, bemerkte Lucy lakonisch.
Unsere Freundin richtete ihre Suchscheinwerfer bereits auf die anderen Gäste. »Welcher ist denn Viscount Summersby?«, fragte sie.
Lucy sah sich im Ballsaal um. »Der da drüben. Mit der Blondine in Grün, neben dem großen Spiegel.«
Terry nahm ihn ins Visier. Und ließ die Schultern fallen. »Warum müssen diese Typen immer aussehen wie Staubsaugervertreter?« Sie seufzte. »Und wer ist das?« Ein großer, gut aussehender junger Mann warf ihr im Vorbeigehen ein strahlendes Lächeln zu.
»Lohnt sich nicht. Kein Geld. Keine Aussichten.« Lucy kannte offenbar die Prioritäten der Amerikanerin genau. »Natürlich ist er intelligent und nimmt schon Kurs auf die City. Vielleicht macht er Karriere.«
Aber Terry schüttelte den Kopf. »Das dauert bei solchen Typen zwanzig Jahre, und wenn sie dann oben angekommen sind, tauschen sie dich gegen ein jüngeres Modell aus. Nein. Was ich will, ist Geld. Gleich von Anfang an.«
Ich nickte verständnisvoll. »Aber nicht Lord Summersby.«
Sie lächelte. »Nicht, wenn ich was Besseres kriegen kann.« Amüsant wurde dieser Wortwechsel natürlich dadurch, dass sie es ernst meinte.
Wir hatten uns mittlerweile in ein ziemlich legeres Begrüßungsdefilee eingereiht und fast bis zu unseren Gastgebern vorgeschoben. Alle vier standen nebeneinander vor einem prächtigen Vorhang, einer eigens für dieses Zeremoniell aufgestellten Kulisse. Der Großherzog war eine melancholische Gestalt; der teigige kleine Mann wirkte neben seiner imposanten Gemahlin noch schmächtiger, und
offen gestanden habe ich nie einen interessanten Satz von ihm gehört. Sein aufwendiges Kostüm, in dem er wohl den Herzog von Richmond darstellte, trug er mit überraschter Miene, als hätte man
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