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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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trafen. Meine Eltern heirateten 1946, kurz darauf wurde er zum zweiten Sekretär unserer Botschaft in Madrid ernannt. Im Großen und Ganzen waren sie sehr glücklich miteinander gewesen, davon bin ich überzeugt. Meine Mutter reiste gern, für sie war die ständige Verlegung ihres Haushalts eher ein Vergnügen als ein Ärgernis. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass sie sich prächtig amüsierte, seit mein Vater zum Botschafter ernannt wurde. Man entsandte ihn zwar nie an eine der wirklich großen Botschaften wie Paris, Washington oder Brüssel, doch er bekam Lissabon und Oslo, wo es ihnen sehr gefiel, und anschließend Harare, das sich als wesentlich interessanter erwies als erwartet, wenn auch auf ungute Art. Nach der Pensionierung kehrten sie nach England zurück, wo sie in Wiltshire ein Bauernhaus in der Nähe von Devizes kauften. Vor Antritt seiner vorletzten Stelle war mein Vater in den Adelsstand erhoben worden, was mich freute, da es ihm das Gefühl gab, Bedeutendes geleistet zu haben, auch wenn es natürlich nicht zutraf. Wahrscheinlich half der Titel meinen Eltern ein wenig, in dieser für sie unbekannten Region Englands gesellschaftlich Fuß zu fassen. Ich habe allerdings nie begriffen, warum sie unbedingt aufs Land ziehen wollten, wo doch keiner von beiden eine besondere Leidenschaft für Spaziergänge mit Hunden oder
ein Engagement in der Lokalpolitik hatte. Die Jagd interessierte sie überhaupt nicht. Mein Vater rührte schon seit zwanzig Jahren kein Gewehr mehr an, nachdem er einmal vier Tage lang in einem Hochmoor an der schottischen Grenze Raufußhühnern nachgestellt hatte, ohne einen einzigen Vogel zu erlegen, und meine Mutter war allem abhold, bei dem sie fror.
    Althergebrachte Prinzipien zwingen eine bestimmte Schicht dazu, ständig zu beteuern, nur auf dem Lande sei man wirklich glücklich. Diesem Zwang fielen auch meine Eltern zum Opfer. Wie jeder außer ihnen sehen konnte, war ihr natürliches Biotop die Stadt. Sie liebten abwechslungsreiche Konversation mit informierten Menschen. Sie bewegten sich gern in Gruppen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Sie unterhielten sich gern über Politik, Kunst, Theater und Philosophie. Wie wir wissen, findet sich jenseits der Stadtgrenzen davon nicht viel, und so mussten sie sich mit einem äußerst mageren Angebot begnügen. In Wiltshire hatten sie keine Chance auf Kultur veranstaltungen oder auch nur auf Unterhaltung, aber sie hielten sich mit gelegentlichen Besuchen, Dinnereinladungen und karitativen Aufgaben über Wasser, unterschrieben Petitionen zu lokalen Bauvorhaben, ärgerten sich darüber, wie das Dorfpub geführt wurde und dergleichen. Dann starb meine Mutter, das Letzte, womit mein Vater gerechnet hatte. Aber er bewies Mut, als er alle Brücken in Wiltshire abbrach und ein ebenso ereignisloses Leben in Gloucestershire begann. Nach zehn Jahren Ereignislosigkeit saß er also hier und erzählte mir von seinem nahen Tod, während wir den unappetitlichen Mischmasch auf unseren Tellern in uns hineinlöffelten. Nie habe ich die Absurdität des Lebens stärker empfunden als in diesem Moment.
    »Ich habe alles schriftlich festgehalten, da sollte es nichts zu deuteln geben«, sagte mein Vater, zog einen Plastikordner mit betippten Blättern hervor, gab ihn mir und stand auf. »Gehen wir rüber.«
    Er führte mich in die Bibliothek, wo er den größten Teil des Tages verbrachte, und wie üblich ging mir der Anblick nahe. Dieser Raum, eine Kleinausgabe der Bibliothek, die meine Mutter in Wiltshire eingerichtet hatte, war nicht so gesichtslos wie das Wohnzimmer; vor roten, damastbespannten Wänden standen kannelierte, in einem
weichen Taubengrau lackierte Bücherregale. Sogar die Kissen und Lampen stammten noch aus dem alten Haus. Über dem Kamin hing ein recht gutes, kurz nach der Hochzeit gemaltes Porträt meiner Mutter, auf dem sie ein schickes Vierzigerjahrekostüm trägt. Mein Vater warf immer wieder einen kurzen Blick hinüber, als suchte er für seine Beschlüsse ihre Zustimmung. Was wohl tatsächlich so war.
    Auf dem Tisch vor dem grünen Cordsofa wartete ein Tablett mit Kaffeegeschirr für zwei Personen, das uns die unermüdliche Mrs. Snow bereitgestellt hatte. Mein Vater goss sich eine Tasse ein und nickte zum Ordner hin. »Beerdigung , Grab, steht alles da drin. Gebete, Lieder, wer die Rede halten soll, wenn du es nicht tun willst, alles.«
    »Ich dachte, du hasst Kirchenlieder.«
    »Tu ich auch, aber ich halte eine Beerdigung nicht

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