Eine Krone für Alexander (German Edition)
Priester.“
Bewusst wandte sich Alexander nicht an Lykurgos, sondern an
einen der anderen Priester. „In Makedonien ist der König zugleich oberster
Priester und bringt jeden Morgen selbst das Opfer dar. Daher hielt ich es für
meine Pflicht als sein Stellvertreter, diese Aufgabe auch hier zu erfüllen. Ich
wusste nicht, dass das mit den Regeln dieses heiligen Bezirks unvereinbar ist.
Selbstverständlich bin ich einverstanden, wenn das Ritual auf traditionelle
Weise durchgeführt wird.“ Dabei lächelte er gewinnend, und der Priester nickte
zufrieden.
Nachdem die Opferzeremonie zur Zufriedenheit aller (mit
Ausnahme von Lykurgos) vollzogen worden war, wurden die Besucher in den Tempel
der Athene Parthenos geführt. Das Innere des Parthenons war der größte und
eindrucksvollste Tempelraum, den Alexander bis dahin zu Gesicht bekommen hatte.
In geheimnisvollem Dunkel erhob sich auf einem hohen Sockel die Statue der
Göttin. Auf ihrer ausgestreckten rechten Handfläche stand eine kleine
geflügelte Siegesgöttin, die Linke ruhte elegant auf dem Rundschild, der an
ihrer Seite lehnte. Gewand, Helm und Schild waren mit Gold überzogen, das Gesicht,
der Hals und die Arme mit Elfenbein.
Nachdem Alexander eine Zeit lang schweigend zu der Göttin
aufgesehen hatte, wandte er sich an den Priester, mit dem er bereits zuvor
gesprochen hatte. „Stimmt es eigentlich, dass das Standbild vor genau hundert
Jahren geweiht wurde?“
Der Priester starrte ihn überrascht an. „Ja, das ist
richtig. Es ist ein Werk des großen Pheidias.“
„Ich habe gehört, er hat neun Jahre lang daran gearbeitet.
Was stellen die Bilder auf dem Schild dar?“
Der Priester zögerte einen Augenblick, doch da Alexander
einen so interessierten Eindruck erweckte, winkte er ihn näher an die Statue
heran. Lykurgos blickte säuerlich; offenbar war es ihm nicht recht, wenn der
Feind seiner Göttin zu nahe kam. Der Priester dagegen nahm eine der Fackeln aus
der Halterung und hielt sie an den Schild. „Da es dich offenbar interessiert …
Auf der Außenseite ist der Kampf unserer Ahnen gegen die Amazonen abgebildet,
innen der der olympischen Götter gegen die Giganten.“
Nachdem sie das Tempelinnere bewundert hatten, besichtigten
sie auch den Skulpturenschmuck auf der Außenseite des Parthenons. Der Priester
erläuterte ihnen die dort dargestellten Szenen und genoss es sichtlich, interessierten
Kunstfreunden die Wunderwerke seines Heiligtums präsentieren zu können. Lykurgos
stapfte währenddessen misstrauisch hinter ihnen her, als fürchte er, die
Besucher könnten, wenn er nicht aufpasste, die Reliefs von seinem Tempel
stehlen.
Dann wollten die Gäste auch das Erechtheion und das Bild der
Athene Polias sehen.
„Ausgeschlossen“, schnappte Lykurgos. „Athene Polias ist ein
uraltes, hochheiliges Kultbild, das in grauer Vorzeit vom Himmel gefallen ist.
Die Anwesenheit von Fremden würde es entweihen!“
„Schade“, sagte Alexander bedauernd. „Ich würde der Göttin
gern im Namen meines Vaters, König Philipp, ein Geschenk überreichen, ein kostbares
Gewand.“
Allein schon die Vorstellung schien Lykurgos an den Rand eines
Anfalls zu bringen. „Unsere Göttin erhält jedes Jahr an den Panathenäen-Feiern
ein Gewand, das in monatelanger Arbeit von den Frauen und Mädchen der Stadt
gewebt wurde. Ganz bestimmt braucht sie keines von Fremden!“
„Unsere Göttin bestimmt selbst, was sie braucht“, schnauzte
ihn die Priesterin der Athene Polias an. „Wenn dieser nette junge Mann hier ihr
ein Geschenk machen möchte, ist es selbstverständlich willkommen.“ Die
Priesterin, eine füllige ältere Dame, lächelte Alexander zu, der seinerseits
charmant zurücklächelte.
Das Bild der Athene Polias war in der Tat uralt, so alt,
dass es noch aus Holz gefertigt war. „In Pella habe ich einmal eine Statue der
Artemis gesehen“, sagte Alexander zu der Priesterin. „Sie war ebenfalls aus
Holz. Die dortige Priesterin sagte, dass unsere Vorfahren Bilder wie diese
schon mitgebracht hätten, als sie in das Land einwanderten.“
Lykurgos, der sich inzwischen wieder halbwegs von seiner
Schlappe erholt zu haben schien, erklärte von oben herab: „Unsere Vorfahren sind niemals von irgendwo eingewandert! Sie
sind hier einst aus der heiligen Mutter Erde selbst hervorgegangen. Unsere
ehrwürdigen Götter haben nichts gemein mit den Dämonen, die von den Barbaren
des Nordens verehrt werden.“
Die Priesterin wurde wütend. „Wie kannst du es wagen,
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