Eine Krone für Alexander (German Edition)
frommen Pilger drängten sich vor dem
Tempel, keine Priester standen bereit, um die heiligen Rituale durchzuführen.
Auch die sonst unvermeidlichen Fremdenführer und Andenkenverkäufer ließen sich
nicht blicken. Stattdessen hatte sich eine Abordnung verschlafen aussehender
Priester herbemüht. Sie waren untröstlich, der Gott weissage nur an bestimmten
Tagen im Jahr, und dies sei keiner davon.
„Es heißt, Apollon spricht an jedem siebten Tag eines Monats“,
hatte Aristandros erwidert. „Und morgen ist der Siebte.“ Alexander hatte sich
sehr beeilt, um rechtzeitig in Delphi einzutreffen, und nun hieß es lapidar, es
sei nicht der richtige Tag.
Einer der Priester erklärte: „Es stimmt, der Gott antwortet
am siebten Tag eines Monats – mit Ausnahme der Wintermonate. Denn dann verlässt
er sein Heiligtum und zieht sich nach Norden zurück ins Land der Hyperboreer.“
„Aber noch ist gar nicht Winter“, wandte Alexander ein. „Wir
haben schließlich erst den Monat Apellaios.“
„Ihr in Makedonien vielleicht, aber bei uns in Delphi sind
wir bereits im Poitropios, und das ist bereits Winter. Der Gott spricht nicht
mehr.“
„Der Poitropios entspricht dem makedonischen Audynaios“,
erläuterte Aristandros. „Soll das heißen, dass unsere Kalender um fast einen
ganzen Monat voneinander abweichen?“
Der Priester zuckte bedauernd die Achseln. „Das übliche
Chaos. Jede Stadt hat ihren eigenen Kalender. Die Monate tragen
unterschiedliche Namen, das Jahr beginnt überall mit einem andern Monat, und
dann gibt es da noch das Problem mit den Schaltmonaten, die jeweils nach Gusto
einfügt werden, damit das Mondjahr einigermaßen mit dem Sonnenjahr übereinstimmt.
Das dürfte auch der Grund für unser momentanes Problem sein.“
Alexander machte eine ungeduldige Handbewegung. Die
diffizile Problematik des griechischen Kalenders interessierte ihn im Moment
nicht. „Ich bin gekommen, um Apollon in einer wichtigen Sache zu konsultieren.
Es geht um dem geplanten Feldzug gegen die Perser.“
„In der Tat eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit“,
gab der Priester zu. „Warum schickst du nicht eine Festgesandtschaft im
Frühjahr, wenn der Gott wieder spricht?“
„Im Frühjahr ist es zu spät, da brechen wir bereits nach
Asien auf. Außerdem möchte ich meine Frage Apollon persönlich unterbreiten.“
Die Priester sahen einander ratlos an. Schließlich sagte
einer von ihnen: „Dein Vater, König Philipp, hat dem Heiligtum viele Wohltaten
erwiesen. Möglicherweise ist der Gott bereit, für seinen Sohn und Erben eine Ausnahme
zu machen.“
Das klang schon besser. Die Priesterschaft in Delphi hatte
schon immer einen untrüglichen Instinkt für das ihr Zuträgliche besessen. Also
hatte man sich am nächsten Morgen in aller Frühe vor dem Tempel eingefunden, wo
eine Ziege, von einem Opferdiener an einem Strick gehalten, bereits gottergeben
ihres Schicksals harrte. Es war ein hübsches Tier mit schneeweißem Fell und
elegant geschwungenen Hörnern, das auf zierlichen Hufen anmutig auf dem
felsigen Boden balancierte. Einer der Priester näherte sich mit einem Kessel
und schüttete der Ziege einen Schwall eiskalten Wassers über den Kopf. Sie
zuckte zusammen und gab ein empörtes Meckern von sich.
„Der Gott ist anwesend und bereit zu antworten“, deutete der
Priester das Omen.
So waren alle Vorbereitungen für die Befragung des Orakels
getroffen worden, von den komplizierten Reinigungsritualen bis hin zu den
Opferzeremonien. Die Einzige, die sich nicht blicken ließ, war die Pythia, die
Seherin des Orakels. Der Junge, den die Priester zu ihrem Haus entsandt hatten,
kam unverrichteter Dinge zurück. Daraufhin hatte Alexander Ptolemaios
losgeschickt, um sie umzustimmen, während er selbst mit den anderen beim Tempel
wartete.
Er ging ein paar Schritte auf und ab und zog sich seine
Chlamys eng um den Körper. So früh am Morgen – und in dieser Jahreszeit – war
die Luft hier oben im Gebirge empfindlich kalt. Er musterte die schroffen Felsen,
die über dem Heiligtum emporragten. Weit oben sah er einen Vogel mit
ausgebreiteten Schwingen seine Kreise ziehen. Apollon war hier, das spürte Alexander,
egal, was die Priester behaupteten, der Gott hatte sich noch nicht in den
Norden zurückgezogen. Und plötzlich wusste er, dass er eine Antwort von ihm
erhalten würde, hier und jetzt.
Ptolemaios keuchte vernehmlich, als er die steile Straße zum
Tempel herauftrabte. Oben angekommen, gönnte er sich ein paar
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