Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Notgroschen von fünfzehntausend Dollar zur Verfügung stellte. All das bestätigte nur die mehr oder weniger allgemeine Überzeugung, dass die Amerikaner liebenswürdige Hinterwäldler und für unbeaufsichtigte Ausflüge in die große weite Welt noch nicht reif waren.
Umso größer war die Überraschung, als alles aufgebaut war. Am amerikanischen Stand schien es nicht mit rechten Dingen zuzugehen: Fast alle Maschinen taten etwas, was die Welt auch inständig von Maschinen erwartete — Nägel ausstanzen, Steine schleifen, Kerzen ziehen —, aber das mit einer Akkuratesse, Schnelligkeit und nimmermüder Zuverlässigkeit, angesichts derer sich andere Nationen nur verwundert die Augen reiben konnten. Elias Howes Nähmaschine beeindruckte die Damenwelt immens und verhieß das Unmögliche, nämlich, dass eine der ödesten häuslichen Tätigkeiten zum aufregenden Zeitvertreib werden konnte. Cyrus McCormick stellte eine Mähmaschine vor, die angeblich die Arbeit von vierzig Männern erledigte, eine derart verwegene Behauptung, dass sie kaum einer glaubte. Doch als man mit dem Vehikel hinaus aufs Land fuhr, zeigte sich, dass es alles konnte, was man versprochen hatte. Am aufregendsten aber war Samuel Colts neuer Trommelrevolver, der mehrschüssig und daher gnadenlos tödlich war — und obendrein noch manufakturmäßig hergestellt werden konnte.
Nur eine einheimische Kreation konnte es mit derartigen Meisterleistungen hinsichtlich Neuheit, Nützlichkeit und Präzision aufnehmen — Paxtons großartige Halle selbst, doch ausgerechnet die sollte nach dem Ende der Ausstellung verschwinden. Für viele Europäer waren die amerikanischen Erzeugnisse der erste beunruhigende Hinweis darauf, dass die Tabak kauenden Hillbillys jenseits des Großen Teichs in aller Stille auf dem Weg zum Industriegiganten waren — aber dann wieder fanden sie es so unwahrscheinlich, dass sie es nicht mal glaubten, als es tatsächlich so kam.
Die beliebteste Attraktion auf der Weltausstellung waren indes keine Ausstellungsstücke, sondern die eleganten »Rückzugsräume«, wo sich die Besucher in allem Komfort erleichtern konnten. Das Angebot wurde dankbar und begeistert von 827 000 Leuten in Anspruch genommen, einmal an einem einzigen Tag von 11 000 dringend Bedürftigen. 1851 bestand ein erschreckender Mangel an öffentlichen Toiletten. Im Britischen Museum mussten sich bis zu 30 000 Besucher am Tag gerade mal zwei Außenaborte teilen. Im Crystal Palace aber gab es sogar Spülklosetts, was die Besucher so entzückte, dass sie nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich zu Hause ebensolche einbauen zu lassen. Was, wie wir später sehen werden, rasch katastrophale Folgen für London haben sollte.
Neben dieser hygienischen Neuerung gab es auf der Weltausstellung auch ein gesellschaftliches Novum, denn zum ersten Mal kamen Menschen aus allen Schichten zusammen und gingen quasi auf Tuchfühlung miteinander. Viele hatten Angst, dass die einfachen Leute — »die hehren Ungewaschenen«, wie William Makepeace Thackeray sie noch im Jahr zuvor in seinem Roman Die Geschichte von Pendennis genannt hatte — sich des in sie gesetzten Vertrauens als unwürdig erweisen und den Hochmögenden alles verderben, ja, vielleicht sogar Sabotage betreiben würden. Schließlich war es erst drei Jahre her, dass es in Paris, Berlin, Krakau, Budapest, Wien, Neapel, Bukarest und Zagreb Volksaufstände gegeben hatte und Regierungen gestürzt worden waren.
Man befürchtete ganz besonders, dass die Ausstellung Chartisten und ihre Sympathisanten anziehen würde. Der Chartismus war eine populäre Bewegung — der Name stammt von der »People's Charter« (die wiederum in Anlehnung an die Magna Charta formuliert worden war) aus dem Jahre 1837. Man forderte eine Reihe politischer Reformen, die sich im Rückblick allesamt eher bescheiden ausnehmen: Es ging von der Abschaffung von rotten und pocket boroughs* bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer. Über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren reichten die Chartisten eine Reihe von Petitionen im Londoner Parlament ein, von denen eine fast zehn Kilometer lang und angeblich von 5,7 Millionen Menschen unterschrieben war. Das Parlament zeigte sich beeindruckt, lehnte sie aber trotzdem ab, natürlich zum Besten des Volkes. Ein allgemeines Wahlrecht, so die einhellige Meinung, war eine gefährliche Sache — »gänzlich
* In rotten boroughs konnte ein Parlamentsabgeordneter von einer sehr geringen Anzahl Menschen gewählt
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