Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Wirte der Flöhe, die freilich die Wirte der Bakterien sind, die die Krankheit verbreiten. Ratten erliegen der Pest genauso schnell wie wir und viele andere Lebewesen: Eines der Anzeichen für den Ausbruch der Pest sind nämlich allenthalben tote Hunde, Katzen, Kühe und sonstiges Getier. Flöhe mögen das Blut pelziger Viecher viel lieber als das von Menschen und fallen uns nur an, wenn sie nichts Besseres finden. Aus dem Grund sollte man in Gegenden, in denen die Pest heute noch vorkommt — namentlich Teilen Afrikas und Asiens —, Ratten und andere Nager auch nicht allzu begeistert erlegen. Ja, es gibt tatsächlich für Ratten keine angenehmeren Zeiten, als wenn die Pest grassiert (und sie sich nicht anstecken). Überhaupt glaubt man, dass außer ihnen mehr als siebzig andere Lebewesen — Kaninchen, Wühlmäuse, Murmeltiere, Eichhörnchen und Mäuse — bei der Verbreitung der Pest eine Rolle spielen. Und mit der allerschlimmsten Pestepidemie der Geschichte haben Ratten wahrscheinlich gar nichts zu tun, jedenfalls nicht in England.
Lange bevor der berüchtigte Schwarze Tod im vierzehnten Jahrhundert über Europa herfiel, hatte er noch heftiger im siebten Jahrhundert gewütet. In manchen Orten starben fast alle Bewohner. Beda sagt in seiner Geschichte Englands, die er im Jahrhundert darauf schrieb, dass in seinem Kloster in Jarrow bis auf den Abt und einen Jungen alle hinweggerafft wurden; die Sterblichkeitsrate lag also beträchtlich über neunzig Prozent. Wer aber immer der Überträger war, die Ratten waren es offenbar nicht. Nirgendwo in Großbritannien hat man Rattenknochen aus dem siebten Jahrhundert gefunden — und man hat wirklich genau gesucht. Bei einer Ausgrabung in Southampton sammelte man 50000 Tierknochen aus einer Gruppe von Behausungen und deren Umgebung, doch keiner war von einer Ratte.
Heute meint man, dass vielleicht manche Pestepidemien gar keine Pest-, sondern Ergotismus-Epidemien waren, während derer die Menschen an einer Vergiftung starben, die durch Getreide verursacht wurde, das mit einem Pilz verunreinigt war. In vielen kalten, trockenen nördlichen Ländern trat die Pest nie auf — Island wie auch große Teile Norwegens, Schwedens und Finnlands blieben vollständig verschont —, obwohl es dort Ratten gab. Andererseits kam die Pest fast überall dann, wenn die Jahre elend nass waren — und das sind genau die Bedingungen, in denen Ergotismus entstehen konnte. Möglich ist aber auch, dass der Begriff »Pestilenz« viel allgemeiner benutzt und von späteren Historikern missinterpretiert wurde.
Noch vor ein, zwei Generationen war die Zahl der Ratten in Städten beträchtlich höher als heute. 1944 berichtete der NewYorker, dass Kammerjäger in einem bekannten (aber tunlichst nicht genannten) Hotel in Manhattan in drei Nächten im Souterrain und im Keller darunter 236 Ratten gefangen hatten. Etwa zu der Zeit enterten die Nager auch den erwähnten Geflügelmarkt in Gansevoort. Sie drangen so zahlreich ein, dass sie Sekretärinnen entgegenhupften, wenn diese ihre Schreibtischschubladen öffneten. Binnen weniger Tage fingen die Schädlingsbekämpfer viertausend Ratten, doch völlig befreien konnten sie den Markt von ihnen nicht. Letztendlich wurde er geschlossen.
Gemeinhin liest man immer wieder, dass in einer Stadt durchschnittlich eine Ratte auf einen Menschen komme, doch nun haben Studien gezeigt, dass das übertrieben ist. Das echte Verhältnis ist eher eine Ratte auf drei Dutzend Einwohner. Leider sind das immer noch viele Ratten — in Großlondon zum Beispiel grob eine Viertelmillion.
II.
In unseren Häusern tobt das Leben aber in viel kleinerem Maßstab. Im Reich der Superwinzlinge kreucht und fleucht es, dass es eine wahre Lust ist: Ein Haus ist der reinste Regenwald für kriechende, kraxelnde Kleinstviecher. Ganze Armeen ziehen durch den grenzenlosen Dschungel Ihrer Teppichfasern, fliegen wie mit einem Paraglider an Staubflocken mit, kriechen nachts über Ihre Laken, um sich an dem riesigen köstlichen, sanft bebenden, schlummernden Fleischberg zu laben, der Sie sind. Die Geschöpfe existieren in Zahlen, die Sie schlechterdings das Gruseln lehren. Allein Ihr Bett — wenn es denn durchschnittlich sauber, durchschnittlich alt, durchschnittlich groß ist und durchschnittlich oft gewendet (also nie) wird — ist Heim für etwa zwei Millionen winziger Bettmilben, so klein, dass sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen, aber unmissverständlich da sind. Man hat berechnet, dass das
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