Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
sagen. Manchmal werden sie auch mehr und machen Geschichte. Wie zum Beispiel im Westen der Vereinigten Staaten und auf den kanadischen Ebenen, als die Farmer dort von einer Plage heimgesucht wurden, wie man sie noch nie zuvor erlebt hatte. Aus dem Nichts kamen Schwärme von Felsengebirgsschrecken (oder Rocky-Mountain-Heuschrecken), riesige zirpende, flatternde, hungrige Massen, die die Sonne verdunkelten und verschlangen, was am Wege lag. Einerlei, wo die Schwärme landeten, die Folgen waren grauenhaft. Sie fraßen Felder und Obstgärten kahl und verputzten alles, auf das sie sich setzten: Leder und Leinwand, Wäsche von der Leine, Wolle vom Rücken lebender Schafe, sogar die hölzernen Griffe von Werkzeugen. Ein erstaunter Augenzeuge berichtete, sie seien derartig zahlreich auf einem recht großen Feuer gelandet, dass es erlosch. Es war wie das Ende der Welt, berichteten viele, die es miterlebten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein Schwarm hatte eine geschätzte Länge von zweitausend-siebenhundert und eine Breite von etwa einhundertsiebzig Kilometern. Er brauchte fünf Tage, bis er vorbeigezogen war. Man glaubt, dass er aus mindestens zehn Milliarden einzelner Insekten bestand, doch andere Leute vermuteten bis zu 12,5 Billionen mit einem Gesamtgewicht von 27,5 Millionen Tonnen. Mit großer Sicherheit war es die größte Ansammlung lebender Wesen, die man je auf Erden gesehen hatte. Nichts konnte sie von ihrem Weg abbringen. Wenn zwei Schwärme aufeinandertrafen, schoben sie sich einer durch den anderen und kamen auf der anderen Seite in ungebrochenen Reihen wieder heraus. Man konnte noch so viel mit Schaufeln auf sie einschlagen oder sie mit Insektiziden besprühen, es war ein Tropfen auf den heißen Stein.
Zu der Zeit zogen die Leute zu Tausenden in den Westen der Vereinigten Staaten und Kanadas und schufen einen neuen Weizengürtel in den Great Plains. Die Bevölkerung Nebraskas stieg zum Beispiel in einer Generation von 28000 auf über eine Million. Nach dem Bürgerkrieg entstanden insgesamt vier Millionen neue Farmen westlich des Mississippi, und viele dieser neuen Farmer hatten hohe Hypotheken auf Haus und Land sowie Kredite für ganze Flottillen neuer Maschinen aufgenommen — Mähmaschinen, Dreschmaschinen, sonstige Erntemaschinen —, um ihr Land auf industriellem Niveau bestellen zu können. Hunderttausende andere hatten riesige Summen in Eisenbahnen investiert, Getreidesilos und Geschäfte jeglicher Art, um die rasch wachsende Bevölkerung des Westens zu beliefern. Doch jetzt wurden unendlich viele dieser Menschen buchstäblich an den Bettelstab gebracht.
Ende des Sommers verschwanden die Heuschrecken; vorsichtig machten sich Hoffnung und Erleichterung breit. Aber der Optimismus war verfrüht. Die Heuschrecken kamen in den folgenden drei Sommern wieder, und jedes Mal waren es mehr als zuvor. Der beunruhigende Gedanke, dass man im Westen vielleicht doch nicht auskömmlich leben konnte, griff um sich. Nicht weniger beunruhigend war die Angst, dass die Heuschrecken weiter nach Osten zogen und dort die sogar noch fruchtbareren Ackerflächen des Mittleren Westens kahl fraßen. Die Menschen waren verzweifelt und verzagt.
Und dann hörte mit einem Mal alles auf. 1877 waren die Schwärme viel kleiner, und die Heuschrecken wirkten seltsam lethargisch. Im nächsten Jahr kamen sie überhaupt nicht mehr. Die Rocky-Mountain-Heuschrecke (offizieller Name: Melanoplus spretus) zog sich nicht nur zurück, sondern verschwand ganz von der Bildfläche. Es war ein Wunder. Das letzte lebende Exemplar wurde 1902 in Kanada gefunden. Seitdem keines mehr.
Wissenschaftler brauchten mehr als ein Jahrhundert, um herauszufinden, was passiert war: Allem Anschein nach zogen sich die Heuschrecken jeden Winter zu Winterschlaf und Paarung in die lehmige Erde an den idyllischen Flüssen östlich der Rockies zurück. Genau dort aber waren die in Scharen kommenden neuen Farmer dabei, das Land zu pflügen — wobei die Heuschrecken und ihre Puppen offenbar im Schlaf umkamen. Ein effektiveres Mittel hätte man gar nicht erfinden können, auch wenn man Millionen Dollar ausgegeben und sich jahrelang mit dem Problem beschäftigt hätte. Ausrottung lässt sich nie gutheißen, doch die hier hat vermutlich mehr Segen als Schaden gebracht.
Hätten die Heuschrecken sich weiter vermehrt, hätte die Welt anders ausgesehen. Landwirtschaft und Handel weltweit, die Besiedelung des Westens und letztlich auch das Schicksal unseres alten Pfarrhauses
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