Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Ausbrüche von Typhus, rheumatischem Fieber, Scharlach, Diphterie, Pocken und allem möglichem Anderen. Zwischen 1850 und 1870 starben allein 1500 Menschen im Jahr an Typhus und von 1840 bis 1910 etwa 10 000 Kinder an Keuchhusten. An Masern noch mehr. Kurzum, auch im neunzehnten Jahrhundert gab es noch eine Unmenge Arten, diese Welt zu verlassen.
Die Cholera war anfangs nicht einmal sehr gefürchtet, aus dem entschieden verachtenswerten Grund, dass nur arme Leute sie bekamen und arme Leute arm waren, weil sie so geboren wurden. Wenn man auch ein paar von ihnen großmütig zugestand, dass sie es nicht verdienten, war man überwiegend der Meinung, dass die meisten von Natur aus »sorglos, leichtsinnig und trunksüchtig und gewohnheitsmäßig gierig nach sinnlicher Befriedigung« waren, wie es in einem Regierungsbericht kurz und knapp zusammengefasst wurde. Sogar Friedrich Engels, ein weit mitfühlenderer Beobachter als viele andere, konnte in Die Lage der arbeitenden Klasse in England schreiben: »Der südliche, leichtsinnige Charakter des Irländers, seine Roheit, die ihn wenig über einen Wilden stellt, seine Verachtung aller menschlicheren Genüsse, deren er eben wegen dieser Roheit unfähig ist, sein Schmutz und seine Armut, alles das begünstigt bei ihm die Trunksucht.«
Als also 1832 in den dicht bevölkerten Innenstädten die Leute wie die Fliegen an einer brandneuen Krankheit aus Indien namens Cholera starben, betrachtete man es als Unglück, wie es die Armen eben von Zeit zu Zeit ereilte. Cholera galt als »Pest des armen Mannes«. In New York waren mehr als vierzig Prozent der Opfer arme irische Einwanderer und auch Schwarze überproportional betroffen. Die staatliche Gesundheitsbehörde erklärte wahrhaftig, die Krankheit beschränke sich auf die lasterhaften Armen und sei »ausschließlich auf ihre Lebensgewohnheiten zurückzuführen«.
Doch dann erfasste die Cholera auch die Leute in wohlhabenden Stadtvierteln, und das Entsetzen war groß. Seit dem Schwarzen Tod waren die Menschen von einer Krankheit nicht mehr derartig in Angst und Schrecken versetzt worden. Typisch für die Cholera war ihre Schnelligkeit. Die Symptome — heftiger Durchfall und Erbrechen, qualvolle Krämpfe, entsetzliche Kopfschmerzen — kamen urplötzlich und alle zusammen. Die Sterblichkeitsrate betrug fünfzig Prozent und manchmal mehr, und dieses Tempo verstörte die Leute in der Tat: der grausige unmittelbare Übergang von vollkommenem Wohlbefinden zu Schmerzen und Qualen, Delirium undTod. Furchtbar, einen geliebten Menschen beim Frühstück noch froh und munter und beim Abendessen tot zu sehen.
Dabei beeinträchtigten andere Krankheiten das Leben der Menschen viel schlimmer. Wer die Cholera überlebte, wurde meist wieder ganz gesund, aber Scharlachopfer blieben oft taub oder hirngeschädigt und Pockenpatienten, wie beschrieben, scheußlich entstellt. Die Cholera jedoch wurde zur fixen Idee der Nation. Zwischen 1845 und 1856 wurden auf Englisch mehr als siebenhundert Bücher darüber publiziert. Besondere Sorgen bereitete den Leuten, dass sie nicht wussten, woher die Krankheit kam oder wie man sich vor ihr schützen konnte. »Was ist die Cholera?«, fragte die Lancet 1853. »Ein Pilz, ein Insekt, ein Miasma, eine elektrische Störung, ein Mangel an Ozon, eine krankhafte Ausschwemmung des Magen-Darm-Kanals? Wir wissen nichts darüber.«
Am weitesten verbreitet war der Glaube, dass Cholera und andere schreckliche Krankheiten von unreiner Luft kamen. Alles, was Abfall war oder verdorben — Abwasser, Leichen auf Friedhöfen, verrottende Pflanzen, menschliches Ausatmen —, hielt man für Ursachen von Krankheiten und potenziell tödlich. »Ansteckende Lüfte und dichter Gestank ziehen verheerend, unsichtbar durch alle Straßen [...] und schonen keinen, und der Vorübergehende atmet mit jedem Atemzug verdampften verrottenden Gossendreck und Fäulnis tief in beide Lungen ein«, schrieb ein Chronist, einen Hauch drastisch, um die Mine des Jahrhunderts. Und Liverpools oberster Gesundheitsbeamter errechnete 1844 selbstüberzeugt präzise das Ausmaß des Schadens, der da angerichtet wurde. Er berichtete ans Parlament: »Durch die bloße Lungentätigkeit der Bewohner Liverpools wird täglich eine drei Fuß hohe Luftschicht, die die ganze Fläche der Stadt bedeckt, ungeeignet für die Atmung der Menschen.«
Der hingebungsvollste, einflussreichste Miasmatheorie-Gläubige, also jemand, der die Ursache von Krankheiten in der giftigen Luft
Weitere Kostenlose Bücher