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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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bescheidenen Art nicht viel weiter, und die Behörden wiesen auch jetzt noch seine Behauptungen zurück.
    Heute begreift man eigentlich gar nicht, wie radikal und unerwünscht Snows Ansichten waren. Viele Leute vom Fach hassten ihn vehement. Die Lancet argwöhnte sogar, dass er auf der Gehaltsliste einer Branche stehe, deren Interesse und Wunsch es sei, weiterhin die Luft mit »Pestilenzdünsten, Miasmen und schlimmen Abscheulichkeiten aller Arten« zu verpesten und reich zu werden, indem sie ihre Nachbarn vergifte. »Nach eingehender Prüfung«, schloss auch die Parlamentarische Untersuchung, »sehen wir keinen Grund, die geäußerte Ansicht zu übernehmen.«
    Doch schließlich kam es, wie es kommen musste. Im Sommer 1858 suchte eine Hitzewelle mit großer Trockenheit London heim, der Müll wurde nicht weggeschwemmt und sammelte sich. Die Temperaturen stiegen bis weit über dreißig Grad Celsius und blieben so hoch — sehr ungewöhnlich für London. Das Resultat war »der Große Gestank«, wie The Times es nannte. Die Themse stank so widerwärtig, dass die Leute, wenn sie es irgend vermeiden konnten, sich nicht mehr in der Nähe des Flusses aufhielten. »Wer den Gestank einmal eingeatmet hat, kann ihn nie wieder vergessen«, schrieb eine Zeitung. Die Vorhänge im neuen Parlamentsgebäude wurden fest zugezogen und mit einer Lösung aus Kalziumchlorid bespritzt, um die tödlichen Gerüche zu mildern, doch die Leute wurden panisch. Man musste Sitzungen unterbrechen. Abgeordnete, die in die Bibliothek zu gelangen versuchten, die zum Fluss hin lag, »waren sofort zum Rückzug gezwungen, jeder einzelne Mann mit einem Taschentuch vor der Nase«, berichtet Stephen Halliday.
    Snow erlebte all das nicht mehr. Leider auch nicht, dass er und seine Ideen rehabilitiert wurden. Mitten im »Großen Gestank« starb er an einem Schlaganfall und erfuhr nie, dass er später als Held gefeiert wurde. Er war erst fünfundvierzig Jahre alt. Sein Tod wurde kaum zur Kenntnis genommen.
    Gott sei Dank war schon eine andere heldenhafte Gestalt dabei, die Bühne zu betreten — Joseph Bazalgette. Zufällig arbeitete er in einem Büro genau um die Ecke von Snow, wenn sich die beiden Männer auch, soweit wir wissen, nie begegnet sind. Bazalgette war ein sehr kleiner, schlanker Mann und federleicht, kompensierte aber seine Jockey-Figur mit einem spektakulär buschigen Schnauzbart, der buchstäblich von Ohr zu Ohr reichte. Wie die des anderen großen viktorianischen Ingenieurs Isambard Kingdom Brunel waren seine Vorfahren Franzosen. Doch bei seiner Geburt im Jahre 1819 war die Familie schon fünfunddreißig Jahre in England ansässig. Der Vater war Fregattenkapitän in der königlichen Marine, und unser Held wuchs in sehr privilegierten Verhältnissen auf, er wurde von Privatlehrern erzogen und genoss alle sonstigen Vorzüge einer solchen familiären Umgebung.
    Da ihm wegen seiner zarten Statur die Militärlaufbahn verschlossen war, wurde er Eisenbahningenieur, trat aber 1849 im Alter von dreißig in die Metropolitan Commission of Sewers, die Londoner Kommission zu Fragen der Kanalisation ein, wo er bald zum Chefingenieur aufstieg. Nie gab es einen größeren Fürsprecher für den Bau einer Kanalisation. Nichts, was die Entsorgung von Abwässern und Abfall betraf, entging seiner genauen Überprüfung. Weil es so gut wie keine öffentlichen Toiletten in London gab, entwarf er Pläne, wie man sie an allen wichtigen Stellen der Stadt aufstellen konnte. Der Urin sollte gesammelt und an die Industrie verkauft werden (abgestandenen Urin brauchte man zur Alaunherstellung). Mit jedem Urinal konnten so 48 Pfund im Jahr verdient werden, ein schönes Sümmchen. Der Plan wurde nie umgesetzt, aber es verbreitete sich die allgemeine Überzeugung, dass Joseph Bazalgette der Mann war, an den man sich wenden musste, wenn es um Abwässer ging.
    Nach dem »Großen Gestank« war klar, dass das Abwassersystem in London erneuert werden musste, und Bazalgette bekam den Zuschlag. Es war eine gewaltige Aufgabe. Er musste in eine Stadt, in der das Leben pulsierte und tobte, fast zweitausend Kilometer Tunnel bauen, die unbegrenzt halten sollten und mittels derer man jeden letzten von drei Millionen Menschen erzeugten Dreckkrümel wegschaffen und zukünftig anfallende Abwässer unbekannter Menge bewältigen wollte. Das hieß Land erwerben, Wegerechte aushandeln, Baumaterialien besorgen und verteilen und Massen von Arbeitern dirigieren. Schon der Gedanke an das Ausmaß des

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