Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
eine der seltensten Leichen überhaupt.
Einzigartig aufregend an ihm ist, dass er nicht in einem Grab lag und die persönlichen Gegenstände sorgsam um ihn herum arrangiert waren, sondern dass hier ein Mensch mitten aus dem Leben gerissen wurde, mit den Alltagsdingen, die er bei seinem Tode mit sich führte. So etwas hatte man noch nie gefunden, und beinahe hätte man alles zerstört, weil man vier Tage lang übereifrig versuchte, ihn zu bergen. Jeder, der vorbeikam, durfte mal an dem Eis herumhacken, in dem die Leiche feststeckte. Ein wohlmeinender Helfer packte einen Stock und versuchte damit zu graben, doch der zerbrach. »Der Stock«, berichtete die National
Geographic, »erwies sich als Teil des Rahmens der Rückentrage aus Haselholz und Lärchenholz, die der Eismann dabeigehabt hatte.« Die Freiwilligen benutzten wahrhaftig dessen unschätzbar wertvolle Gegenstände, um ihn auszugraben!
Dann nahm sich die österreichische Polizei des Falles an, und Ötzi wurde eilends in einen Kühlraum nach Innsbruck geschafft. Doch eine darauf folgende GPS-Ortung ergab, dass sich der Fundort gerade noch auf italienischem Territorium befunden hatte, und nach einigem juristischen Hickhack mussten die Österreicher die kostbare Leich wieder hergeben, und sie wurde über den Brenner nach Italien gebracht.
Heute ruht Ötzi auf einem Glastisch in einem gekühlten Raum im Archäologischen Museum in Bozen. Seine Haut hat die Farbe und Struktur feinen Leders und liegt straff über den Knochen. Sein Gesichtsausdruck ist müde-resigniert. Seit er vor fast zwanzig Jahren aus den Bergen heruntergebracht wurde, ist er eine der kriminalistisch am meisten untersuchen Leichen in der Menschheitsgeschichte geworden. Verblüffend exakt konnten Wissenschaftler viele Einzelheiten aus seinem Leben ermitteln. Mit Elektronenmikroskopen fanden sie heraus, dass er am Tage seines Todes Steinbock und Rotwild, Dinkelbrot und einige nicht zu bestimmende Gemüsesorten gegessen hat. Aus Pollenkörnern in seinem Dickdarm und den Lungen schlossen sie, dass er im Frühling gestorben ist und den Tag unten im Tal begonnen hat.
Nach einer Untersuchung der Isotopenzusammensetzung in seinem Zahnschmelz vermochten sie sogar zu sagen, was er als Kind gegessen und getrunken hat, und vor allem, wo er aufgewachsen ist, nämlich im Eisacktal in Südtirol. Später zog er ins Vinschgau, auch in Südtirol an der heutigen Grenze zur Schweiz. Die größte Überraschung war sein Alter: Auf mindestens vierzig, aber womöglich sogar dreiundfünfzig Lenze hatte er es gebracht, womit er wahnsinnig alt für die Zeit geworden wäre. Vieles konnten die Forscher allerdings auch nicht erklären, zum Beispiel, wie er gestorben war und was er zum Zeitpunkt seines Todes dreitausend Meter über dem Meeresspiegel wollte. Sein Bogen war nicht gespannt und erst halb fertig, und die Pfeile waren bis auf zwei ebenfalls nicht schussbereit und damit nutzlos. Trotzdem hatte er sie dabei.
Normalerweise besuchen nicht viele Leute kleine archäologische Museen in Provinzhauptstädten, doch ins Bozener Museum strömen sie das ganze Jahr hindurch in Scharen, stehen Schlange, um den Mann aus der Eiszeit durch ein kleines Fenster anzuschauen, und der Geschenkeshop mit Ötzi-Souvenirs boomt. Ötzi selbst liegt nackt auf dem Rücken auf seinem Glastisch. Seine braune Haut glänzt feucht, weil man ihn in einem ständigen Sprühnebel konserviert. Eigentlich ist erst mal gar nichts Besonderes an ihm. Er ist ein vollkommen normales, wenn auch ungewöhnlich altes und gut erhaltenes menschliches Wesen. Ungewöhnlich sind auch seine vielen Besitztümer. Anhand ihrer kann man eine Zeitreise unternehmen.
Ötzi besaß Schuhe, Kleidung, zwei Birkenrindengefäße, einen Dolch mit Scheide, ein Beil, einen Bogenstab, Köcher und Pfeile, verschiedene kleine Werkzeuge und hatte außerdem ein paar Beeren, ein Stück Steinbockfleisch sowie zwei walnussgroße, kugelige Klumpen eines Baumpilzes dabei, eines Birkenporlings, die ihm als Antibiotikum bei kleinen Wunden oder als Mittel gegen Bauchschmerzen dienten und die er sich, sorgfältig auf einen Fellstreifen gefädelt, ums Handgelenk gebunden hatte. In einem der mit Spitzahornblättern ausgekleideten Gefäße wiederum müssen sich Glutstücke befunden haben, mit denen er Feuer anzünden konnte. Viele dieser Dinge hatte man bis dahin noch nie gesehen, ja, nicht einmal eine Vorstellung davon gehabt, dass es dergleichen überhaupt gab.
Ötzis Ausrüstung war aus
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