Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
achtzehn verschiedenen Hölzern gefertigt — eine erstaunliche Vielfalt. Das Überraschendste aber war sein Beil. Es hatte eine kupferne Klinge und gehört zum Typ Remedello-Beil; der Name stammt von der gleichnamigen Fundstelle Remedello bei Brescia. Doch Ötzis Beil war um einige Jahrhunderte älter als das älteste Remedello-Beil. »Es war, als habe man aus einer mittelalterlichen Grabstätte ein modernes Gewehr geborgen«, sagte ein Forscher. Durch den Fund des Beils musste man die Kupferzeit in Europa um mehr als eintausend Jahre früher ansetzen.
Doch geradezu eine Offenbarung war die Kleidung, absolut aufregend. Vor Ötzi hatte man keine Ahnung — genauer gesagt, man konnte nur ahnen —, wie sich Steinzeitmenschen kleideten. Erhalten geblieben waren ja lediglich Teile. Doch hier war nun ein vollständiges Outfit, das voller Überraschungen steckte. Es bestand aus verschiedenen Fellen, von Rotwild, Bären, Gämsen, Ziegen und Kühen. Außerdem hatte Ötzi ein viereckiges Stück geflochtenes Gras dabei, das neunzig Zentimeter lang war und das er vielleicht als Regencape, vielleicht als Schlafmatte benutzte. Noch einmal: Nichts dergleichen hatte man je gesehen oder sich auch nur auszumalen gewagt.
Ötzi trug Beinkleider aus Fellstücken der Hausziege, die mit Lederriemen an einem Gürtel befestigt wurden und ungefähr so aussahen wie die Nylonstrümpfe und Strapse von Hollywood-Pin-up-Girls im Zweiten Weltkrieg. Auf so eine Montur wäre man doch nie gekommen! Des Weiteren trug Ötzi einen Lendenschurz aus Ziegenleder und eine Mütze aus dem Fell eines Braunbären vielleicht eine Jagdtrophäe und sicher sehr warm und beneidenswert schick. Die übrige Kleidung war meist aus dem Leder und Fell von Rotwild und nicht etwa von Haustieren, was man eigentlich erwartet hätte.
Die Schuhe waren der helle Wahn. Eigentlich sahen sie aus wie ein Paar Vogelnester auf Sohlen aus steifem Bärenleder. Sie schienen hoffnungslos schlecht erdacht und wenig solide zu sein. Aber fasziniert davon schusterte ein tschechischer Fuß- und Schuhexperte namens Václav Pátek sorgfältig eine exakte Kopie aus den gleichen Materialien und probierte sie bei einer Gebirgswanderung aus. Sie waren, berichtete er mit einer gewissen Verblüffung, »bequemer und funktionstüchtiger« als alle modernen Schuhe, die er je getragen hatte. Auf rutschigem Stein hatte man einen besseren Halt als mit den gummibesohlten Schuhen von heute, und es war so gut wie unmöglich, sich Blasen zu laufen. Vor allem schützten sie extrem gut gegen Kälte.
Trotz all der forensischen Stocherei vergingen zehn Jahre, bevor jemand bemerkte, dass in Ötzis linker Schulter eine Pfeilspitze steckte. Bei genaueren Untersuchungen fand man dann Blutfleeken auf seiner Kleidung und seinen Waffen, und zwar Flecken vom Blut vier anderer Menschen. Ötzi musste in irgendeinem gewalttätigen Showdown getötet worden sein. Warum ihn seine Feinde zu einem hohen Bergpass hinaufjagten, ist allerdings heute nicht einmal mehr mit viel Fantasie zu klären. Doch wieso haben sich die Mörder seine Besitztümer nicht geschnappt? Die waren doch — besonders das Beil — überaus wertvoll. Nein, nachdem sie ihn über eine weite Strecke verfolgt und sich mit ihm einen reichlich blutigen Nahkampf geliefert hatten — damit das Blut von vier Leuten spritzt, muss es ganz schön hoch hergehen —, ließen sie ihn und alles, was er mit sich führte, einfach liegen, wo er hingefallen war. Was für uns natürlich Glück ist, denn die Gegenstände geben Antworten auf alle möglichen sonst nicht zu beantwortenden Fragen, außer der einen, die uns wahrscheinlich ewig quälen wird: Was um alles in der Welt lief da oben ab?
Wir befinden uns im Ankleidezimmer, zumindest in dem Raum, den Edward Tull so bezeichnet hat. Zu den vielen bauplanerischen Kuriositäten gehörte es, dass Tull keinen Durchgang zwischen Ankleideraum und Schlafzimmer daneben vorsah, sondern dass sich beide Räume jeweils zum Flur im ersten Stock hin öffneten. Wenn sich Mr. Marsham also anziehen wollte, hätte er ein paar Schritte über den Flur vom Schlaf- zum Ankleidezimmer laufen müssen und nach dem Auskleiden umgekehrt vom Ankleide- zum Schlafzimmer — eine komische Organisation, allemal, wenn man bedenkt, dass nur ein paar Schritte entfernt das »Schlafzimmer der weiblichen Bediensteten« war — also das der getreuen Jungfer Worm. Da waren gelegentliche peinliche Begegnungen doch geradezu unumgänglich. Na, vielleicht waren
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