Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
zweiten wurde er in seinem schändlichen Tun unterbrochen, doch beim ersten kam jegliche Rettung zu spät.
Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein genossen Kinder so gut wie keinen juristischen Schutz. Vor 1814 verbot zum Beispiel nicht einmal ein Gesetz den Diebstahl von Kindern. 1802 entführte eine Frau namens Elizabeth Salmon ein Kind, das Elizabeth Impey hieß, aber der Prozess wurde ihr nur wegen Diebstahls der Haube und des Kleides gemacht; ausschließlich das war an ihrem Vergehen rechtswidrig. Weil das Entführen von Kindern so wenige Risiken barg, glaubte man weithin, dass sogenannte Zigeuner kleine Jungs und Mädchen stahlen und weiterverkauften, und offenbar kam das auch manches Mal vor. Berühmt wurde die Geschichte von Mary Davis, einer Frau aus guter Familie, die 1812 ihren verloren geglaubten Sohn als Kaminkehrer in einem Gasthaus fand, in dem sie nächtigte.
Mit Beginn der Industriellen Revolution wurde alles noch viel schlimmer. Bevor das Fabrik-Gesetz 1844 den Arbeitstag für Kinder verkürzte, waren die Arbeitstage an sechs Tagen in der Woche zwölf bis vierzehn Stunden lang, und wenn die Auftragsbücher voll waren, unter Umständen noch länger. In einer Fabrik entdeckte man 1810, dass Lehrlinge von zehn vor sechs in der Früh bis nach neun Uhr abends an den Maschinen schufteten, nur eine einzige Pause von dreißig bis fünfundvierzig Minuten fürs Mittagessen hatten und das bisweilen noch an den Maschinen stehend einnehmen mussten. Dabei reichte die Ernährung meist kaum zum Überleben. »Sie essen Wasserporridge zum Frühstück und zum Abendessen und mittags im Allgemeinen Haferbrot und Melasse oder Haferbrot und dünne Brühe«, berichtete ein Fabrikinspektor. In manchen Fabriken herrschten entsetzlich ungesunde Zustände. Wenn Materialien wie Flachs bei der Verarbeitung feucht gehalten werden mussten, was mit Hilfe von Sprühapparaten geschah, verbrachten manche Arbeiter den gesamten Arbeitstag durchnässt in dem Dauernieseln, was im Winter unerträglich gewesen sein muss. Überhaupt waren fast alle Maschinenanlagen in den Fabriken hochgefährlich, besonders wenn die, die daran arbeiteten, erschöpft und hungrig waren. Manche Kinder, wurde berichtet, waren so müde, dass sie nicht einmal mehr die Kraft zum Essen hatten und mit dem Essen im Mund einschliefen.
Wenigstens hatten sie mehr oder weniger feste Arbeit. Das Leben derer, die nur Gelegenheitsarbeit bekamen, war eine einzige Lotterie. Etwa ein Drittel der Bewohner Zentrallondons, so schätzte man 1750, ging jeden Abend ins Bett, ohne einen Penny verdient zu haben, und der Anteil wurde im Laufe der Zeit immer größer. Tagelöhner wussten beim Erwachen morgens selten, ob sie an dem Tag genug zu essen haben würden. Die Lebensbedingungen vieler Menschen waren so rundum grässlich, dass Henry Mayhew einen ganzen Band seines vierbändigen Die Armen von London den Ärmsten von ihnen widmete, den Lumpensammlern, die so verzweifelt waren, dass sie fast alles, was am Wegesrand fallen gelassen wurde, aufsammelten. Mayhew schrieb:
Auf vieles, das in einem Landstädtchen von den Mittellosen durch einen Tritt aus dem Weg befördert wird [...], stürzt man sich in London, weil es eine Kostbarkeit ist und bares Geld wert. Eine zerdrückte, zerrissene Haube zum Beispiel oder noch besser, ein alter Hut, dreckig und speckig, zerdrückt, ohne Krempe oder nur noch Krempe, werden von der Straße aufgehoben und sorgsam in einem Beutel verstaut [...]
Das Los der Lumpensammler war manches Mal so grauenhaft, dass selbst die hartgesottensten Beamten schockiert waren. Ein Hausinspektor berichtete 1830: »Ich fand [ein Zimmer], belegt von einem Mann, zwei Frauen, zwei Kindern und außerdem der Leiche eines armen Mädchens, das ein paar Tage zuvor im Kindbett verstorben war.« Arme Eltern hatten traditionell eine zahlreiche Nachkommenschaft als Altersversorgung, denn sie hofften, dass genug ihrer Sprösslinge überleben und sie in ihren letzten Tagen ernähren würden. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte ein Drittel der Familien in England acht oder mehr Kinder, ein weiteres Drittel fünf bis sieben und das letzte Drittel (überwiegend die Wohlhabenderen) vier oder weniger. In ärmeren Vierteln konnten Familien selten alle ihre Mitglieder ausreichend ernähren, heftigere oder weniger heftige Mangelernährung war an der Tagesordnung. Mindestens fünfzehn Prozent der Kinder, glaubt man, hatten die für Rachitis typischen krummen Beine
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