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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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Physische Parasiten leben im Körper ihrer Wirte. Sie vermehren sich, springen von einem Wirt zum nächsten über, ernähren sich vom menschlichen Körper, schwächen ihn und bringen ihn manchmal sogar um. Wenn der Wirt lange genug lebt, um die Parasiten weiterzugeben, ist ihnen der Zustand ihres Wirts gleichgültig. Ganz ähnlich leben kulturelle Vorstellungen in den Köpfen der Menschen. Sie vermehren sich, werden von einem Träger zum nächsten weitergegeben und können diesen schwächen oder töten. Eine kulturelle Vorstellung – zum Beispiel der Glaube an das christliche Paradies über den Wolken oder das kommunistische Paradies auf Erden – kann Menschen dazu bringen, ihr ganzes Leben für ihre Verbreitung hinzugeben und sogar für sie zu sterben. Der Mensch stirbt, aber die Vorstellung lebt weiter. Demnach wären Kulturen keine Verschwörung, mit deren Hilfe eine Gruppe von Menschen eine andere ausbeutet (wie Marxisten gern annehmen). Kulturen wären vielmehr Parasiten, die zufällig entstehen und alle infizierten Menschen ausbeuten.
    Dieser Ansatz wird gelegentlich als »Memetik« bezeichnet. Analog zur organischen Evolution, die auf der Vervielfältigung von organischen Informationseinheiten namens »Genen« basiert, basiert die kulturelle Evolution demnach auf der Vervielfältigung von kulturellen Informationseinheiten namens »Memen«. 72 Eine Kultur ist dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, ihre Meme weiterzugeben, egal ob dies den menschlichen Wirten nutzt oder schadet.
    Die meisten Geisteswissenschaftler rümpfen beim Stichwort Memetik die Nase, doch viele halten sich an ihre Zwillingsschwester: die postmoderne Theorie. Postmoderne Denker bezeichnen die Grundbausteine der Kultur nicht als Meme, sondern als Diskurse, doch auch sie sind der Ansicht, dass sich Kulturen verbreiten, ohne sich um den Nutzen oder Schaden für den Menschen zu scheren. Den Nationalismus beschreiben sie beispielsweise als tödliche Plage, die sich im 19. und 20. Jahrhundert auf der ganzen Welt ausbreitete und Krieg, Unterdrückung, Hass und Völkermord schürte. Der nationalistische Virus gab vor, dem Menschen zu nutzen, doch genutzt hat er vor allem sich selbst. Sobald die Menschen eines Landes davon befallen waren, steckten sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch ihre Nachbarländer an. Die Menschen hatten zwar wenig von diesem Virus, doch er breitete sich von einem zum anderen aus wie die Grippe.
    Aus den Sozialwissenschaften kennt man ähnliche Vorstellungen unter dem Stichwort »Spieltheorie«. Diese Theorie erklärt, warum sich in Systemen mit mehreren Akteuren bestimmte Ansichten und Verhaltensmuster durchsetzen und verbreiten können, obwohl sie allen Beteiligten schaden. Ein berühmtes Beispiel ist der Rüstungswettlauf. Oft stürzt ein Wettrüsten alle Beteiligten in den Ruin, ohne dass sich das militärische Gleichgewicht nennenswert verändert. Wenn Pakistan moderne Kampfflugzeuge kauft, zieht Indien nach. Wenn Indien die Atombombe entwickelt, folgt Pakistan auf dem Fuß. Wenn Pakistan seine Flotte ausbaut, hält Indien dagegen. Unterm Strich bleibt das Machtgleichgewicht mehr oder weniger unverändert, doch Milliarden von Euro, die man in Bildung oder Gesundheit hätten investieren können, wurden stattdessen für Waffen ausgegeben. Verstehen die Inder und Pakistani das nicht? Das tun sie sehr wohl. Trotzdem können sie sich der Dynamik des Rüstungswettlaufs nicht entziehen. »Wettrüsten« ist ein kulturelles Muster, das wie ein Virus von einem Land auf das andere überspringt, allen schadet, aber sich selbst nutzt (zumindest im evolutionären Sinne des Überlebens und der Reproduktion. Niemand würde behaupten, das Wettrüsten habe so etwas wie ein Bewusstsein oder wollte bewusst überleben und sich vermehren. Es handelt sich vielmehr um eine unbeabsichtigte Konsequenz mit einer gewaltigen Dynamik.).
    Es spielt keine Rolle, ob sie sich an die Spieltheorie, die Postmoderne oder die Memetik halten. Es ist nur wichtig zu verstehen, dass das Wohl der Menschen nicht zu den Leitprinzipien der Geschichte gehört, und dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, die erfolgreichsten Kulturen der Geschichte seien automatisch der beste Lebensraum für den Homo sapiens . Genau wie die Evolution schert sich die Geschichte wenig um das Glück einzelner Organismen. Und die Menschen sind in der Regel viel zu unwissend und schwach, um den Lauf der Geschichte zu ihrem Vorteil zu lenken.
    Die Geschichte schreitet von einem

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