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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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Menschen, die sie selbst erlebt haben –, verstehen meistens am allerwenigsten, warum die Geschichte diese Wendung nahm und keine andere. Für die Römer zur Zeit Konstantins lag die Zukunft im Nebel. Nach einem ehernen Gesetz der Geschichte ist das, was rückblickend unvermeidlich erscheint, aus Sicht der Akteure selbst alles andere als offensichtlich. Dass ist heute nicht anders. Wenn wir in die Zukunft blicken, können wir uns zum Beispiel fragen: Ist die globale Wirtschaftskrise jetzt endlich vorbei, oder haben wir das Schlimmste noch vor uns? Wächst China immer weiter und steigt irgendwann zur führenden Weltmacht auf? Werden die Vereinigten Staaten ihre Vormachtstellung verlieren? Erhält der religiöse Fundamentalismus weiteren Zulauf, oder handelt es sich um eine regionale und langfristig bedeutungslose Erscheinung? Rasen wir auf eine ökologische Katastrophe zu oder auf ein technologisches Paradies? Auf diese Fragen hat jeder eine andere Antwort, aber niemand weiß es mit Sicherheit. In ein paar Jahrzehnten werden die Menschen zurückblicken und meinen, die Antwort auf alle diese Fragen sei doch völlig offensichtlich gewesen.
    Aber man kann gar nicht genug betonen, dass oft die scheinbar unwahrscheinlichsten Möglichkeiten Wirklichkeit werden. Als Kaiser Konstantin im Jahr 306 den Thron bestieg, war das Christentum nicht mehr als eine esoterische Sekte aus dem Nahen Osten. Die Vorstellung, dass sie kurz davor stand, das Römische Reich zu erobern, war genauso lachhaft wie der Gedanke, Hare Krishna könnte in fünfzig Jahren die Staatsreligion Europas werden. Im Oktober 1913 waren die russischen Bolschewiken eine unbedeutende Gruppe von Radikalen – niemand hätte sein Geld darauf gewettet, dass sie nur vier Jahre später die Herrschaft über ganz Russland an sich reißen würden. Noch absurder war im Jahr 600 der Gedanke, dass ein Volk aus der arabischen Wüste ein Imperium erobern würde, das vom Atlantik bis zum Indischen Ozean reichte. Wenn die Araber gleich zu Beginn ihres Siegeszugs von der Byzantischen Armee gestoppt worden wären, dann wäre der Islam eine unbedeutende Fußnote der Geschichte geblieben, und die wenigen Experten, die von ihm gehört hatten, würden uns heute mit dem Brustton der Überzeugung erklären, warum aus den Offenbarungen eines alternden Handelsreisenden aus Mekka niemals eine Weltreligion werden konnte.
    Natürlich ist nicht alles möglich. Geographische, biologische und wirtschaftliche Kräfte schaffen Zwänge, die sich nicht einfach ignorieren lassen. Doch diese Zwänge lassen erstaunlich viel Raum für überraschende Wendungen. Vielen Menschen gefällt diese Schlussfolgerung nicht, weil es ihnen lieber wäre, wenn die Geschichte vorherbestimmt wäre. Der Determinismus ist verführerisch, denn er vermittelt uns das Gefühl, dass unsere Welt und unsere Vorstellungen ein natürliches und unvermeidliches Produkt der Geschichte sind. Demnach gäbe es gar keine andere Möglichkeit, als die Welt in Nationalstaaten aufzuteilen, die Wirtschaft nach kapitalistischen Grundsätzen zu organisieren und an die Menschenrechte zu glauben. Wenn wir jedoch erkennen, dass die Geschichte nicht in vorgegebenen Bahnen verläuft, dann müssen wir uns eingestehen, dass Nationalismus, Kapitalismus und Menschenrechte nicht mehr sind als Zufallsprodukte.
    Doch die Geschichte lässt sich nicht deterministisch erklären oder vorhersehen, weil sie chaotisch verläuft. Es sind so viele Kräfte am Werk, und diese Kräfte greifen auf derart komplexe Art und Weise ineinander, dass selbst kleinste Veränderungen auf Seiten dieser Kräfte die Entwicklung in völlig andere Bahnen lenken können. Aber die Geschichte ist nicht einfach nur chaotisch, sondern sie ist etwas, das man als ein »chaotisches System zweiter Ordnung« bezeichnet.
    Es gibt nämlich zwei Arten von chaotischen Systemen. Systeme erster Ordnung lassen sich nicht von den Vorhersagen beeinflussen, die wir über sie treffen. Das Wetter ist beispielsweise ein solches System. Es wird zwar von unzähligen Faktoren beeinflusst, doch wir können Computermodelle entwickeln, die alle bekannten Informationen mit einbeziehen, und auf diese Weise unsere Vorhersagen immer weiter optimieren.
    Chaotische Systeme zweiter Ordnung werden dagegen durch die Vorhersagen beeinflusst, die wir über sie treffen. Märkte sind solche chaotischen Systeme zweiter Ordnung. Nehmen wir beispielsweise an, wir könnten ein Modell entwickeln, das mit hundertprozentiger

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