Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Genauigkeit den morgigen Ölpreis vorhersehen könnte – was würde passieren? Der Ölpreis reagiert natürlich sofort auf die Vorhersage, und die wäre damit hinfällig. Wenn das Rohöl heute 90 Dollar pro Barrel kostet und ein unfehlbares Programm für morgen einen Preis von 100 Dollar vorhersieht, dann würden die Händler heute Öl hamstern, um morgen die Gewinne einzustreichen. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage würde der Preis daher schon heute auf 100 Dollar schießen. Aber was passiert dann morgen? Das weiß niemand.
Auch die Politik ist ein chaotisches System zweiter Ordnung. Viele kritisierten die Sowjetologen, weil sie den Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 nicht vorhersahen, und wir halten Nahostexperten vor, dass sie den Arabischen Frühling des Jahres 2011 nicht ankündigten. Das ist ungerecht. Revolutionen sind definitionsgemäß nicht vorhersehbar. Eine Revolution, die sich vorhersehen lässt, bricht erst gar nicht aus.
Warum das nicht funktioniert, lässt sich an einem einfachen Gedankenspiel zeigen. Stellen Sie sich vor, im Jahr 2010 erfindet ein genialer Politikwissenschaftler zusammen mit einem Informatiker ein unfehlbares Programm zur Vorhersage von Revolutionen und verkauft es dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Neugierig probiert der Präsident das neue Spielzeug aus und stellt erschrocken fest, dass es eine Revolution für das kommende Jahr vorausberechnet. Sofort senkt Mubarak die Steuern, verteilt Milliarden unter sein Volk und verstärkt für alle Fälle seine Geheimpolizei. So kommt und geht das Jahr 2011, ohne dass Demonstranten auf die Straße gehen. Ärgerlich beschwert sich Mubarak bei den Entwicklern des Programms und verlangt sein Geld zurück. »Euer Programm hat sich verrechnet! Es hat mich Milliarden gekostet! Im Jahr 2011 gab es gar keine Revolution!«
Worauf die Experten erwidern: »Wir haben Sie gerettet! Ohne uns säßen Sie heute im Gefängnis!«
»Propheten, die Dinge vorhersehen, die dann nicht eintreten?«, fragt Mubarak und winkt seine Wachen heran. »Von der Sorte hätte ich Dutzende auf dem Markt aufsammeln können, und zwar umsonst!«
Aber wozu beschäftigen wir uns dann überhaupt mit der Vergangenheit, wenn sie uns nicht hilft, die Zukunft vorherzusehen?, könnten Sie jetzt fragen. Aber Geschichte ist keine Naturwissenschaft wie Physik oder Chemie, und wir studieren sie nicht, um Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Wir beschäftigen uns mit ihr, um unseren Horizont zu erweitern und zu erkennen, dass unsere gegenwärtige Situation weder unvermeidlich noch unveränderlich ist, und dass wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben, als wir uns gemeinhin vorstellen.
2. Die Geschichte schert sich nicht um den Menschen
Wir können nicht erklären, warum die Geschichte welche Wendungen nimmt, aber eines können wir festhalten: Sie entwickelt sich nicht zum Nutzen der Menschen. Es gibt nicht den geringsten Beweis, dass es den Menschen im Verlauf der Geschichte immer besser geht. Genauso wenig wie bewiesen ist, dass Kulturen, in denen es den Menschen gut geht, erfolgreich sind und sich durchsetzen, während weniger menschenfreundliche Kulturen irgendwann verschwinden. Es ist keineswegs gesagt, dass das Christentum den Menschen mehr brachte als der Manichäismus, oder dass das Arabische Reich besser war als Persische.
Es gibt nicht nur keinen Beweis, dass die Geschichte dem Nutzen der Menschheit dient, wir können diesen »Nutzen für die Menschheit« nicht einmal objektiv definieren. Jede Kultur definiert diesen Nutzen anders, und wir haben keine objektive Messlatte, um diese verschiedenen Definitionen zu vergleichen. Natürlich sind die Sieger immer überzeugt, dass ihre Definition die richtige ist. Aber warum sollten wir den Siegern glauben? Natürlich sind die Christen der Ansicht, dass der Sieg des Christentums über den Manichäismus die Menschheit weitergebracht hat, aber wenn wir die christliche Weltsicht nicht akzeptieren, gibt es nicht den geringsten Grund, ihnen zuzustimmen. Genauso glauben die Muslime, dass die Eroberung des Persischen Reichs durch die Araber der Menschheit nur Vorteile gebracht hat. Aber diese Vorteile sind nur aus muslimischer Sicht erkennbar. Es ist genauso denkbar, dass es uns allen besser ginge, wenn das Christentum oder der Islam besiegt oder vergessen worden wären.
Immer mehr Wissenschaftler betrachten Kulturen als eine Art Geisteskrankheit oder mentalen Parasiten und die Menschen als deren hilflose Wirte.
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