Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
allerdings nicht weiter überraschen. Selbst die Wissenschaft greift immer wieder auf religiöse und ideologische Überzeugungen zurück, um ihre Forschung zu rechtfertigen und zu finanzieren.
Trotzdem zeigt unsere moderne Kultur größere Bereitschaft als jede andere, ihre Unwissenheit anzuerkennen. Wenn die Moderne ihre gesellschaftliche Ordnung trotz der neuen Mode des Zweifels aufrechterhalten konnte, dann liegt das vor allem daran, dass eine fast religiöse Technologie- und Wissenschaftsgläubigkeit aufkam, die den Glauben an absolute Wahrheiten weitgehend verdrängt hat.
Das Dogma der Wissenschaft
Die moderne Wissenschaft hat kein Dogma. Sie verwendet jedoch einige verbindliche Forschungsmethoden und basiert auf empirischen Beobachtungen, aus denen sie mit Hilfe mathematischer Modelle ihre Schlüsse zieht (»empirisch« bedeutet, dass wir sie mit mindestens einem unserer Sinne wahrnehmen können).
Natürlich haben Menschen schon immer ihre Umwelt beobachtet, doch sie maßen diesen Beobachtungen nur geringe Bedeutung bei. Die Menschen glaubten, dass Jesus, Buddha, Konfuzius, Mohammed oder irgendjemand sonst schon alles wusste, was man wissen musste. Der Wissenserwerb beschränkte sich daher darauf, einen vorhandenen Kanon zu studieren und umzusetzen. Warum sollte man wertvolle Ressourcen darauf verschwenden, neue Beobachtungen zu sammeln, wenn wir doch schon alle Antworten hatten?
Aber nachdem unsere Kultur erkannte, wie wenig sie in Wirklichkeit wusste, musste sie völlig neues Wissen erwerben. Unsere Forschungsmethode geht daher davon aus, dass alles alte Wissen unzureichend ist. Statt vorhandene Bibliotheken auswendig zu lernen, legt die Wissenschaft daher den Schwerpunkt auf neue Beobachtungen und Experimente. Wann immer eine neue Beobachtung zum bestehenden Wissen in Widerspruch steht, geben wir der Beobachtung den Vorrang. Das bedeutet nicht, dass frühere Erkenntnisse keinen Wert mehr haben. Physiker, die das Spektrum ferner Galaxien analysieren, Archäologen, die Funde aus einer bronzezeitlichen Ausgrabungsstätte auswerten, und Politikwissenschaftler, die den Ursprung des Kapitalismus untersuchen, fangen nicht jedes Mal bei null an. Natürlich beschäftigen sie sich zunächst mit den Entdeckungen der alten Gelehrten. Doch vom ersten Semester an ist angehenden Physikern, Archäologen und Politikwissenschaftlern klar, dass sie Albert Einstein, Heinrich Schliemann und Max Weber hinter sich lassen müssen.
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Bloße Beobachtungen sind natürlich noch kein Wissen. Um das Universum zu verstehen, müssen wir unsere Beobachtungen zu umfassenden Theorien zusammensetzen. Frühere Traditionen formulierten ihre Theorien meist in Form von Erzählungen. Die modernen Wissenschaften verwenden dazu die Mathematik.
In der Bibel, dem Koran, den Vedas oder den klassischen konfuzianischen Texten suchen wir vergeblich nach Gleichungen, Diagrammen und Berechnungen. Wenn traditionelle Mythen und Heilige Schriften ihre allgemeinen Grundsätze formulierten, dann taten sie dies mit Hilfe von Gleichnissen, nicht mit mathematischen Formeln. Ein Grundprinzip des Manichäismus besagte beispielsweise, dass die Welt ein Schlachtfeld im ewigen Kampf von Gut und Böse ist. Die böse Kraft hatte die Materie erschaffen, und die gute den Geist. Die Menschen waren zwischen diesen beiden Kräften gefangen und mussten sich zwischen Gut und Böse entscheiden. Doch der Prophet Mani unternahm keinen Versuch, die Beziehung zwischen Gut und Böse mit exakten mathematischen Gleichungen zu beschreiben. Er stellte keine Formeln auf wie »die auf den Menschen wirkende Kraft ist gleich der Beschleunigung seines Geistes dividiert durch die Masse seines Körpers«.
Aber genau das versuchen die Wissenschaftler. Im Jahr 1687 veröffentlichte Isaac Newton seine Mathematischen Prinzipien der Naturlehre, das vielleicht wichtigste Buch der modernen Geschichte. Hier stellte Newton eine allgemeine Theorie zur Bewegung aller Körper des Universums auf. Ihre Bedeutung verdankt Newtons Theorie ihrer erstaunlichen Kürze und Klarheit. Newton verdichtete Millionen von Beobachtungen und stellte drei einfache Formeln auf, mit denen sich die Bewegung eines fallenden Blatts genauso beschreiben ließ wie die Flugbahn eines Kometen:
Wer die Flugbahn einer Kanonkugel oder eines Planeten verstehen oder vorhersagen wollte, musste nun nur noch einige empirische Beobachtungen über das fragliche Objekt sammeln (Welche Masse hat es? Welche äußeren Kräfte wirken?) und
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