Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
wurde es durch Zufall entdeckt, als daoistische Alchemisten nach dem Lebenselixier suchten. Die weitere Entwicklung des Schießpulvers sagt noch mehr über die Einstellung der alten Chinesen zur Waffentechnik aus. Man könnte meinen, dass sich China mithilfe der Erfindung der Alchemisten nun zur Weltherrschaft aufschwang. Doch die Chinesen verwendeten die neue Chemikalie vor allem zur Herstellung von Feuerwerkskörpern. Selbst in den letzten Tagen der Song-Dynastie berief der Kaiser angesichts der Bedrohung durch die Mongolen keine Forschergruppe ein, um das Reich mit der Erfindung einer Wunderwaffe zu retten. Erst im 15. Jahrhundert – rund 600 Jahre nach der Erfindung des Schießpulvers – wurden Kanonen zur kriegsentscheidenden Waffe auf den Schlachtfeldern Europas, Asiens und Afrikas. Warum verging so viel Zeit, bis das militärische Potenzial dieser neuen Erfindung erkannt wurde? Ganz einfach: Weil sich damals Herrscher, Gelehrte oder Geschäftsleute nicht im Geringsten für die Entwicklung neuer Militärtechnologien interessierten.
Im 15. und 16. Jahrhundert änderte sich dies allmählich, doch es sollten noch zwei weitere Jahrhunderte vergehen, ehe die Herrschenden die Entwicklung neuer Waffen finanzierten. Militärische Logistik und Strategie waren noch immer wichtiger als Waffentechnologie. Die Kriegsmaschinerie, mit der Napoleon in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz die russischen und österreichischen Armeen besiegte, fuhr noch fast dieselben Waffen auf wie der Sonnenkönig Ludwig XIV. Napoleon selbst kam zwar aus der Artillerie, doch er hatte kein Interesse an »Wunderwaffen« und ignorierte Vorschläge zur Entwicklung von Flugmaschinen, Unterseebooten und Raketen.
Erst mit der Industriellen Revolution und dem Aufstieg des Kapitalismus gingen Wissenschaft, Industrie und Kriegstechnologie eine untrennbare Beziehung ein. Sobald diese jedoch einmal geknüpft war, veränderte sie die Welt.
Das Fortschrittsideal
Vor der wissenschaftlichen Revolution glaubte kaum jemand an Fortschritt. Die meisten Kulturen meinten, das Goldene Zeitalter liege in der Vergangenheit und die Welt befinde sich auf dem absteigenden Ast. Wenn sich die Menschen an die überlieferten Weisheiten hielten, dann konnten sie das verlorene Paradies vielleicht wiederherstellen, und mit ein wenig Geschick konnte man sich das Leben hier und da ein bisschen angenehmer gestalten. Doch gegen die grundsätzlichen Probleme des Lebens konnte man mit menschlichem Wissen nichts ausrichten. Wenn selbst Buddha, Konfuzius, Jesus oder Mohammed, die schließlich alles wussten, nichts gegen Hunger, Krankheit, Armut und Krieg tun konnten, was sollten dann gewöhnliche Sterbliche dagegen ausrichten?
Viele Kulturen lebten in der Hoffnung, dass irgendwann ein Erlöser auftreten würde, der die Menschheit von allen Übeln befreite. Die Vorstellung, dass die Menschheit selbst dazu in der Lage sein könnte, indem sie mehr Wissen erwarb und neue Werkzeuge erfand, war reiner Hochmut. Die Geschichte des Turmbaus zu Babel, der Mythos von Ikarus, das Märchen vom Fischer und seiner Frau und zahllose andere Mythen lehrten die Menschen, dass jeder Versuch, die menschlichen Grenzen zu sprengen, nur mit Enttäuschung und Tod endet.
Als unsere moderne Kultur erkannte, wie wenig sie einerseits wusste und welche Macht ihr andererseits die Wissenschaft verlieh, begannen die Menschen zu ahnen, dass tatsächlich so etwas wie Fortschritt möglich sein könnte. Und als die Wissenschaft ein scheinbar unlösbares Problem nach dem anderen löste, kamen viele zu dem Schluss, dass es nichts gab, was die Wissenschaft nicht konnte. Armut, Krankheit, Krieg, Hunger, Alter und Tod waren kein Schicksal, sondern nur das Produkt der Unwissenheit.
Ein berühmtes Beispiel ist der Blitz. Für viele Kulturen war der Blitz ein Hammer, mit dem ein erzürnter Gott die Sünder auf Erden bestraft. Mitte des 18. Jahrhunderts begann Benjamin Franklin, sich für dieses Naturphänomen zu interessieren. In einem der bekanntesten Experimente der Wissenschaftsgeschichte ließ Franklin in einem Gewitter einen Drachen steigen, um seine Hypothese zu überprüfen, dass es sich bei Blitzen um einfache elektrische Entladungen handelte. Indem er empirische Beobachtungen und sein Wissen um die Elektrizität kombinierte, erfand Franklin den Blitzableiter und entwaffnete die Götter.
Die Armut ist ein weiteres Beispiel. Für viele Kulturen war Armut ein unvermeidlicher Teil dieser unvollkommenen Welt. Das
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