Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
verzerrtes Bild vom Leben der Jäger und Sammler. Um dieses Problem zu umgehen, untersuchen viele Forscher die wenigen Gesellschaften von Jägern und Sammlern, die bis heute überlebt haben. Aber auch das ist nicht so einfach, wie es scheint: Diese Gruppen lassen sich zwar direkt beobachten, doch es wäre sehr problematisch, aus diesen Beobachtungen Rückschlüsse auf die Gesellschaften der Steinzeit ziehen zu wollen.
Erstens stehen die heutigen Gesellschaften von Jägern und Sammlern längst unter dem Einfluss benachbarter Agrar- und Industriegesellschaften. Es wäre daher sehr gewagt anzunehmen, dass sie noch so leben wie ihre Vorfahren vor 30000 Jahren.
Zweitens überlebten die heutigen Gesellschaften von Jägern und Sammlern vor allem in unwirtlichen Regionen mit schwierigen klimatischen Bedingungen, in denen die Landwirtschaft nicht Fuß fassen konnte. Die Völker und Stämme, die sich an die extremen Lebensbedingungen der Kalahariwüste im Süden Afrikas angepasst haben, sind wohl kaum mit den Gesellschaften zu vergleichen, die sich in fruchtbaren Regionen wie dem Jangtse-Tal niederließen. Vor allem ist die Bevölkerungsdichte in der Kalahari deutlich geringer als vor 30000 Jahren am Jangtse, was wiederum weitreichende Auswirkungen auf die Größe und Struktur der einzelnen Gruppen und ihre Beziehungen untereinander hat.
Drittens zeichnen sich Gesellschaften von Jägern und Sammlern vor allem durch ihre Vielfalt aus. Sie unterscheiden sich nicht nur von einem Kontinent zum anderen, sondern schon in derselben Region können die Unterschiede gewaltig sein. Ein gutes Beispiel ist die Vielfalt der australischen Aborigines, wie sie die europäischen Siedler vorfanden. Kurz vor der Kolonialisierung durch die Briten lebten auf dem Kontinent schätzungsweise 300000 bis 700000 Jäger und Sammler in 200 bis 600 Stämmen, von denen sich jeder in weitere Untergruppen unterteilte. 9 Jeder Stamm hatte seine Sprache, Religion, Normen und Bräuche. In der Umgebung von Adelaide in Südaustralien lebten beispielsweise patriarchalische Klans, in denen die Familienzugehörigkeit über die Väter weitergegeben wurde und die sich streng territorial organisierten. In vielen Stämmen Nordaustraliens standen dagegen die Mütter im Mittelpunkt, und die Stammeszugehörigkeit wurde über gemeinsame Mythen und Totems definiert, nicht über Territorien.
Die Vermutung liegt nahe, dass die frühen Gesellschaften der Jäger und Sammler eine ähnliche ethnische und kulturelle Vielfalt aufwiesen, und dass sich die fünf bis acht Millionen Menschen, die vor Beginn der landwirtschaftlichen Revolution über unseren Planeten zogen, auf Tausende Stämme mit ebenso vielen Kulturen und Sprachen verteilten. 10 Das war schließlich das wichtigste Erbe der kognitiven Revolution: Dank der fiktiven Sprache konnten genetisch weitgehend identische Menschen, die unter ähnlichen Umweltbedingungen lebten, völlig unterschiedliche Wirklichkeiten schaffen, die in eigenständigen Normen und Werten zum Ausdruck kamen.
Es wäre beispielsweise durchaus vorstellbar, dass eine Gruppe von Jägern und Sammlern, die vor 30000 Jahren in Bayern lebte, eine ganz andere Sprache sprach als eine andere, die durch das benachbarte Sachsen streifte. Eine dieser beiden Gruppen könnte friedlich gewesen sein, und die andere extrem kriegerisch. Vielleicht lebten die Bayern in urkommunistischen Gemeinschaften, während die Sachsen die Kleinfamilie bevorzugten. Die Bayern könnten sich darauf verlegt haben, stundenlang Holzfiguren zu schnitzen, während sich die Sachsen auf rituelle Tänze spezialisierten. Möglicherweise glaubten die Bayern an die Wiedergeburt, während die Sachsen dies für Unfug hielten. Und vielleicht waren in Bayern gleichgeschlechtliche Beziehungen die Regel, während sie in Sachsen tabu waren.
Die anthropologische Untersuchung von modernen Jägern und Sammlern kann uns einen ungefähren Eindruck davon vermitteln, welche Möglichkeiten steinzeitlichen Gesellschaften offengestanden haben könnten. Doch vor 30000 Jahren war der Horizont der Möglichkeiten noch deutlich größer, und die allermeisten davon sind für uns heute nicht mehr nachvollziehbar. 11 Die hitzigen Debatten um die »natürliche Lebensweise« des Homo sapiens übersieht einen ganz entscheidenden Punkt: Seit der kognitiven Revolution haben wir Sapiens keine natürliche Lebensweise mehr. Wir können lediglich aus einer verwirrenden Vielfalt von kulturellen Möglichkeiten wählen.
Die erste
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