Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
als die heutige Schweiz.
Die meisten Menschen waren Nomaden und zogen auf der Nahrungssuche von einem Ort zum anderen. Ihre Wanderungen wurden durch den Wechsel der Jahreszeiten, die Migration von Tieren und den Wachstumszyklus der Pflanzen bestimmt. Auf ihren Wanderungen blieb eine Gruppe meist innerhalb eines festen Gebiets, das einige Dutzend bis einige Hundert Quadratkilometer groß sein konnte.
Gelegentlich verließen die Gruppen jedoch ihr Territorium und erforschten unbekanntes Gebiet, zum Beispiel nach einer Naturkatastrophe, einem blutigen Konflikt oder einer demographischen Veränderung oder auf Initiative eines charismatischen Anführers. Diesen Wanderungen ist es zu verdanken, dass sich die Menschen allmählich über den gesamten Planeten ausbreiteten. Wenn sich eine Gruppe von Jägern und Sammlern alle vierzig Jahre aufspaltete und sich die Splittergruppe hundert Kilometer weiter östlich ein neues Territorium suchte, dann reichte das schon aus, um innerhalb von 10000 Jahren die Entfernung zwischen Ostafrika und China zurückzulegen.
Wenn es irgendwo besonders viel Nahrung gab, dann ließen sich Gruppen ausnahmsweise dort nieder und blieben länger als eine Jahreszeit an einem Ort. Techniken zum Trocknen, Räuchern und (in der Arktis) Einfrieren von Nahrung ermöglichten es ihnen, sich für einen längeren Zeitraum niederzulassen. An Seen und Flüssen mit reichen Fischbeständen siedelten die Menschen auch dauerhaft. Lange vor der landwirtschaftlichen Revolution gründeten sie dort die ersten festen Dörfer der Geschichte. An den Küsten im indonesischen Archipel errichteten Fischer schon vor 45000 Jahren ihre Siedlungen. Diese könnten auch das Basislager gewesen sein, von dem aus der Homo sapiens zu seinen ersten Entdeckungsfahrten in See stach und schließlich Australien eroberte.
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In den meisten Lebensräumen war die Wirtschaft flexibel und opportunistisch. Die Menschen sammelten Termiten, pflückten Beeren, gruben nach Wurzeln, stellten Hasenfallen auf und jagten Büffel und Mammuts. Die Sammeltätigkeit war in der Regel wichtiger als die Jagd und deckte den größten Teil des Rohstoff- und Kalorienbedarfs. Beim Sammeln und Jagen verwendeten die Menschen Werkzeuge, zum Beispiel Speere, Fallen und Grabstöcke. Außerdem benutzten sie Kleidung: Die Eroberung der Arktis wurde nur durch die Erfindung von Thermobekleidung aus Leder und Fell möglich.
Aber die Menschen sammelten nicht nur Nahrung und Rohstoffe, sondern auch Wissen. Ohne eine detaillierte Kenntnis der Umgebung hätten sie nicht überlebt. Um ihre tägliche Nahrungssuche möglichst effizient zu gestalten, benötigten sie Informationen über das Wachstum aller Pflanzen und die Verhaltensmuster sämtlicher Tiere. Sie mussten den Wechsel der Jahreszeiten verstehen und Hinweise auf einen drohenden Sturm oder eine bevorstehende Trockenzeit erkennen. Jeder Angehörige der Gruppe musste ein Steinmesser herstellen, ein zerrissenes Kleidungsstück flicken, eine Hasenfalle aufstellen, einer Lawine entgehen und mit Schlangenbissen und hungrigen Löwen fertigwerden können. Es gab keinen Laden, in dem das Lebensnotwendige einkaufen und keinen Notruf, den sie im Ernstfall anrufen konnten. Um ihre Fähigkeiten zu erlernen, benötigten sie Jahre der Lehre und Übung. Jeder Jäger konnte innerhalb weniger Minuten aus einem Feuerstein eine Speerspitze fertigen. Wenn moderne Wissenschaftler es ihnen nachmachen wollen, scheitern sie in der Regel kläglich: Sie wissen nicht, wie welcher Basalt oder Feuerstein bricht und sie haben vor allem nicht die Feinmotorik, die nötig ist, um derart präzise zu arbeiten.
Die Jäger und Sammler hatten also sehr viel gründlichere, umfassendere und vielfältigere Kenntnisse über ihre Umwelt als die meisten ihrer modernen Nachfahren. In unserer Industriegesellschaft braucht man zum Überleben nicht allzu viele Fähigkeiten. Was müssen wir denn schon mitbringen, um als Informatiker, Versicherungsvertreter, Geschichtslehrer oder Fließbandarbeiter überleben zu können? Natürlich erwerben wir eine Menge Spezialkenntnisse auf einem klar definierten Gebiet, doch bei der Befriedigung der allermeisten Bedürfnisse verlassen wir uns blind auf andere Experten, die sich genau wie wir auf ein winziges Fachgebiet spezialisiert haben. Als Kollektiv wissen wir heute natürlich viel mehr als diese Gruppen von Urmenschen. Aber für sich genommen waren die Jäger und Sammler die klügsten und geschicktesten Menschen der
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