Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Hundert Quadratkilometern. Ihr »Zuhause« war das gesamte Territorium mit seinen Hügeln, Bächen und Wäldern unter dem weiten Himmel. Die Bauern verbrachten dagegen den größten Teil ihres Lebens auf ihrer Scholle oder in ihrem Obstgarten, und ihr eigentliches Zuhause war ein beengter Holz-, Stein- oder Lehmverschlag, der kaum mehr als ein Dutzend Quadratmeter maß – das Haus. Der typische Bauer entwickelte eine starke emotionale Beziehung zu seiner Hütte. Diese völlige Veränderung des Lebensstils hatte also nicht nur architektonische, sondern auch psychische Konsequenzen. Fortan waren die intime Bindung an die eigenen vier Wände und die räumliche Trennung von den Nachbarn die psychischen Merkmale einer deutlich engstirnigeren Kultur.
Die neuen landwirtschaftlichen Flächen waren nicht nur erheblich kleiner als das Territorium der Jäger und Sammler, sie waren auch künstlicher. Wenn man einmal von der Brandrodung absieht, nahmen die Wildbeuter keine bewussten Veränderungen an ihrer Umwelt vor. Bauern lebten dagegen auf künstlichen menschlichen Inseln, die sie unter großen Mühen der Wildnis entrissen hatten. Sie fällten Bäume, gruben Kanäle, legten Äcker an, bauten Hütten, pflügten Ackerfurchen und pflanzten Obstbäume in ordentlichen Reihen. Dieser künstliche Lebensraum war nur für die Menschen und »ihre« Pflanzen und Tiere bestimmt und wurde oft mit Hecken und Mauern umzäunt. Die bäuerlichen Familien taten alles, um Unkraut oder Wildtiere fernzuhalten. Eindringlinge, die diese Barrikaden überwanden, wurden vertrieben, und wenn sie sich nicht vertreiben ließen, unternahmen die menschlichen Bewohner des Hauses alles in ihrer Macht Stehende, um sie auszurotten. Besonders geschützt wurde das Allerheiligste, das Haus. Seit Beginn des Zeitalters der Landwirtschaft führen mit Pantoffeln und Giften bewaffnete Menschen einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg gegen vorwitzige Ameisen, Spinnen, Kakerlaken oder Käfer, die sich ins Innere der menschlichen Behausung verirren.
Die meiste Zeit der Geschichte waren diese menschlichen Enklaven klein und von den Weiten der ungezähmten Natur umgeben. Die Erdoberfläche misst rund 510 Millionen Quadratkilometer, davon sind rund 155 Millionen Quadratkilometer Festland. Noch im Jahr 1400 unserer Zeitrechnung kauerte sich die überwiegende Zahl der Bauern mit ihren Tieren und Pflanzen auf gerade einmal 11 Millionen Quadratkilometern zusammen – also auf 2 Prozent der Erdoberfläche. 36 Der Rest des Planeten war entweder zu kalt, zu warm, zu trocken, zu nass oder aus anderen Gründen ungeeignet für die landwirtschaftliche Nutzung. Diese mickrigen 2 Prozent waren die Bühne, auf der sich die Menschheitsgeschichte abspielte.
Die Menschen verließen ihre künstlichen Inseln ausgesprochen ungern. Wenn sie ihre Häuser, Äcker und Scheunen unbeaufsichtigt ließen, liefen sie Gefahr, sie zu verlieren. Außerdem häuften sie immer mehr Gegenstände an. Die ersten Bauern mögen uns bitterarm vorkommen, doch eine normale Familie besaß schon mehr Dinge als ein ganzer Stamm von Jägern und Sammlern. Für die Landwirtschaft mussten viele neue Werkzeuge erfunden werden, und mit der Errichtung fester Siedlungen konnten die Menschen außerdem immer mehr überflüssigen Luxus produzieren, ohne den sie schon bald nicht mehr leben konnten. Ein immer größerer Teil der menschlichen Tätigkeiten, Glaubensvorstellungen und sogar Gefühle hing auf die eine oder andere Weise mit Gegenständen zusammen. Der Wanderstab verkam dagegen zu einem bloßen Erinnerungsstück, das vergessen auf dem Dachboden verrottete.
Die Entdeckung der Zukunft
Während für die Bauern der Raum zusammenschrumpfte, dehnte sich die Zeit aus. Jäger und Sammler verschwendeten keine Energie darauf, sich über die nächste Woche oder gar den nächsten Monat Gedanken zu machen. Bauern ließen ihre Phantasie jedoch Jahre und Jahrzehnte in die Zukunft schweifen.
Für Wildbeuter spielte die Zukunft keine große Rolle, da sie von der Hand in den Mund lebten und kaum Möglichkeiten hatten, Vorräte oder Besitzungen anzuhäufen. Natürlich planten sie in gewisser Weise: Wer auch immer die faszinierenden Höhlenmalereien von Chauvet, Lascaux oder Altamira anfertigte, hoffte vermutlich, dass sie einige Generationen lang Bestand hatten. Auch Bündnisse und Rivalitäten waren eher langfristige Angelegenheiten. Oft waren Jahre nötig, um eine Gefälligkeit zu erwidern oder eine Kränkung zu rächen. Doch in der
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