Eine Lady nach Maß
war wichtiger, als einen Morgen untätig im Laden zu sitzen und zu warten.
Sie warf sich einen wollenen Umhang über die Schultern. Dann eilte sie aus der Tür. Der Wind blies kalt aus Richtung Norden. Hannah war froh, dass sie nicht ohne Schutz aus dem Haus gegangen war. Bei der Wäscherei blieb sie kurz stehen und erklärte Tessa, dass sie ihre Unterrichtsstunde verschieben müssten. Dann machte sie sich auf den Weg zum Mietstall.
Als sie den düsteren Raum betrat, rümpfte sie die Nase wegen des Geruches nach feuchtem Stroh und Pferdemist. Sie erinnerte sich von ihrem letzten Besuch daran, wo Jerichos Büro war, und ging direkt auf die geschlossene Tür zu. Seit ihrem Training mit den Ringen hatte er sich von ihr ferngehalten.
Doch bei manchen Gelegenheiten hatte sie bemerkt, dass er sie anblickte. In der Kirche, auf der Straße – immer mit dem gleichen undurchdringlichen Gesichtsausdruck. Und manchmal hatte sie sogar in ihrem Laden das Gefühl, dass er sie von seinem Bürofenster aus beobachtete. So etwas Albernes. Es war natürlich nur Einbildung, aber trotzdem fühlte sie sich dadurch verunsichert.
„Hallo, ist hier jemand?“, rief sie laut, um das Gefühl des Unbehagens zu vertreiben.
„Bin gleich bei Ihnen.“ Die Stimme klang vertraut und aufgeregt. Tom.
Erleichterung und Enttäuschung durchfluteten Hannah gleichermaßen.
Der schlaksige junge Mann trat aus dem Schatten des Stalles hervor und grinste breit, als er sie erkannte. „Schön, Sie zu sehen, Miss Richards. Suchen Sie J.T.?“
„Nicht unbedingt. Ich bin sicher, dass Sie mir auch helfen können, junger Mann.“ Hannah versteckte ein Grinsen, als Tom sich stolz aufrichtete. „Ich möchte mir ein Pferd und einen Wagen leihen.“
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Raus zu Ezra Culpepper. Am Nachmittag werde ich wieder hier sein.“
Tom schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. „Sie können Doc nehmen, denke ich. Mrs Walsh hat vor ein paar Tagen ihr Kind bekommen, also wird der richtige Doc ihn wohl erst mal nicht brauchen. Der Wagen ist leicht zu lenken. Außerdem hat er ein Dach, falls es anfängt zu regnen.“
Hannah nickte. „Hört sich genau richtig an.“
„Sie können sich da hinten hinsetzen, während ich den Wagen fertig mache.“ Er zeigte auf ein paar Kisten an der Wand. „Ich brauche ein paar Minuten, bis alles so weit ist.“
„Das mache ich.“
Tom ging davon und Hannah betrachtete kritisch ihre Sitzmöglichkeiten. Sie suchte sich die sauberste Kiste aus, legte ein Taschentuch auf den Deckel und ließ sich dann vorsichtig darauf nieder.
„Miss Richards?“
Sofort sprang Hannah wieder auf und ihr Magen zog sich beim Klang der vertrauten Stimme zusammen – einer tiefen, wohlklingenden Stimme.
„Was führt Sie auf meine Seite der Straße?“ Jericho trat nicht aus seinem Büro heraus, sondern aus dem Stallbereich, in dem die Pferde untergebracht waren. Offensichtlich war er gerade bei der Arbeit gewesen, denn er hatte die Ärmel hochgerollt und roch nach Heu und Pferden.
Hannah zwang sich zu einem Lächeln. „Ich miete einen Wagen. Tom bereitet gerade alles vor.“
„Wofür?“
Hannah sah ihn finster an. Als Tom sie das gefragt hatte, war sie davon ausgegangen, dass er einfach nur eine Unterhaltung anfangen wollte, ohne zu bemerken, dass die Frage ziemlich unhöflich und indiskret war. Aber Jericho sollte es eigentlich besser wissen. „Fragen Sie alle Kunden so aus?“
„Nein. Nur Sie.“ Sein Mund verzog sich nicht, doch seine Augen funkelten, als müsse er ein Lachen unterdrücken. Fast konnte sie sich sein tiefes Glucksen vorstellen.
„Wenn das so ist, dass Sie mir Ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen scheinen, kann ich Ihnen meine Pläne gerne mitteilen.“ Sie lächelte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. „Ich mache mir Sorgen um Ezra.“ Sie sah ihn an und merkte, dass er sie schon wieder angestarrt hatte. Er machte auch keine Anstalten, das zu verbergen.
„Er ist ein erwachsener Mann.“
Endlich wurde Hannahs Blick abgelenkt, als Tom draußen den Einspänner vorfuhr. Sie konzentrierte ihre Augen darauf, während ihre anderen Sinne Jericho überdeutlich wahrnahmen. Seine Stimme, seinen Geruch ...
„Das weiß ich“, sagte sie. „Trotzdem. Bisher hat er kein einziges unserer täglichen Treffen ausfallen lassen. Und seit sechs Tagen hat er sich nicht mehr blicken lassen.“
„Es kann Hunderte von Gründen geben, warum das so ist. Vielleicht ist er damit
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