Eine Lady nach Maß
„Sie sollten in der Stadt sein und hübsche Kleider nähen, anstatt einen alten Kauz wie mich zu besuchen. Ich bin Ihre Sorgen nicht wert.“
„Reden Sie nicht so einen Unsinn, Ezra. Lassen Sie uns ins Haus gehen, dann mache ich uns einen Tee.“
Bevor Hannah allerdings den Tee machen konnte, musste sie erst einmal den Wasserkessel suchen. Berge von schmutzigen Tellern, Tassen und Schüsseln türmten sich in der Küche. Seit seine Frau gestorben war, hatte der arme Mann wahrscheinlich nicht mehr von einem sauberen Teller gegessen. Es war ein Wunder, dass er in dieser Unordnung überhaupt etwas essen konnte. Eine geöffnete Dose Bohnen stand auf dem Küchentisch, ein Löffel steckte darin. Sein Mittagessen, kein Zweifel. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Bohnen zu erhitzen. Während Hannah ihren Umhang und die Haube an einen Haken hängte, schwor sie sich, dass sie dieses Haus nicht verlassen würde, ehe es hier sauber und ordentlich war.
Ohne auf Ezras Protest zu achten, suchte sie sich eine Schürze, krempelte die Ärmel hoch und nahm eine Waschwanne, die sie draußen an der Pumpe auffüllte. Dann weichte sie sämtliches Geschirr in Seifenwasser ein und machte sich daran, alles gründlich abzuschrubben.
Endlich hatte Ezra seinen Widerstand aufgegeben, setzte sich zu ihr in die Küche, schnitzte an einem kleinen Holzstückchen herum und lauschte ihrem Bericht über Cordelias große Fortschritte. Hannah beschrieb den wunderschönen grünen Stoff, den sie für ihr Kleid ausgesucht hatten, die glänzenden Knöpfe und das Schnittmuster. Sie bezweifelte zwar, dass Ezra sich für Cordelia Tuckers neues Kleid interessierte, doch so verging die Zeit wie im Fluge.
Als alles abgewaschen war, bestand Ezra darauf, beim Abtrocknen behilflich zu sein. Hannah entschied, dass er nur im Sitzen helfen durfte. Sofort bei ihrer Ankunft war ihr aufgefallen, dass er sich offenbar nur unter großen Schmerzen bewegen konnte. Sie sprach ihn allerdings erst darauf an, als sie schließlich gemeinsam bei einer Tasse heißen Tees saßen.
„Haben Sie sich verletzt? Soll ich den Arzt hierher schicken, damit er nach Ihnen sieht?“
Ezra schlürfte seinen Tee und schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Da kann man nichts machen.“ Er stellte langsam die Tasse ab. „Mein Rheuma wird immer schlimmer, wenn es regnet. Und nach dem zu urteilen, wie meine Knie schmerzen, haben wir das Unwetter noch nicht völlig überstanden.“
„Haben Sie einen Suppenknochen, damit ich Ihnen eine Brühe machen kann? Sie könnten sie mit Gemüse und Fleisch verlängern, um über die nächsten Tage zu kommen.“
„Nein. Sie haben schon zu viel für mich getan.“ Er stützte die Hände auf die Tischplatte und stemmte sich mühsam hoch. Mit vorsichtigen, schlurfenden Schritten ging er zum Fenster und sah hinaus. „Sieht so aus, als käme ein neuer Sturm von Nordwesten. Kann nicht sagen, wann er hier sein wird. Am besten fahren Sie schnell zurück in die Stadt.“
Hannah trank den letzten Schluck ihres Tees und stand auf. „Sind Sie sicher, dass ich nichts mehr für Sie tun kann?“
„Ja, ich bin mir sicher. Jetzt beeilen Sie sich, damit Sie noch gut nach Hause kommen.“
„Na gut, dann mache ich mich auf den Weg.“ Hannah warf sich ihren Umhang über und trat an die Tür. „Ich habe Mr Tucker versprochen, dass der Wagen am Nachmittag wieder im Stall ist. Ich will nicht, dass er mich für unverantwortlich hält.“
„Na ja, ich glaube eher, dass der Junge Sie für unwiderstehlich hält“, murmelte Ezra von seinem Platz am Fenster.
Ein Schauer durchfuhr Hannah bei diesen Worten, den sie aber schnell unterdrückte. Wahrscheinlich hatte sie Ezras Gemurmel falsch verstanden.
Als sie nach draußen traten, zerrte ein böiger Wind an Hannahs Haube.
„Ich glaube, Sie haben recht mit dem Sturm.“ Sie stemmte sich gegen den Wind und ging auf ihr Pferd zu. Das Tier hob gelassen den Kopf aus der Tränke und schien vom Wetter völlig unbeeindruckt. Jericho hatte es gut erzogen.
Ezra führte das Pferd mit dem Wagen zur Straße und half Hannah beim Aufsteigen. Dann streckte er ihr etwas entgegen. „Hier, das habe ich für Sie geschnitzt. Meine Alice mochte solche Dinge.“
Vorsichtig nahm sie sein Geschenk entgegen – ein Kolibri, sehr detailgetreu gearbeitet mit gefiederten Flügeln und einem langen, gekrümmten Schnabel. „Danke, Ezra. Das ist wunderschön.“ Sie verstaute es sorgsam in ihrer Handtasche.
Ezra reichte ihr die Zügel.
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