Eine Lady von zweifelhaftem Ruf
ihn im Salon allein. Jonathan bedauerte es, nur fünfzehn Minuten und nicht eine halbe Stunde zu spät gekommen zu sein. Seine Bemühungen, mit Castleford nicht alleine zu sein, waren wohl umsonst gewesen.
Der Brief war mehr eine Vor- als eine Einladung gewesen und genauso überheblich wie der Mann, der ihn geschickt hatte. Die bloße Ankunft des Briefes war Überraschung genug gewesen, nicht der herrische Tonfall darin. Zwischen ihm und Castleford war noch eine Rechnung offen, und er hätte niemals erwartet, dass sich der Herzog noch einmal an ihn wenden würde.
Er beschäftigte sich damit, die Gemälde im Raum zu betrachten. Sie waren zwar im klassischen Stil, schienen aber neueren Datums zu sein, also hatte Castleford sie wahrscheinlich nicht geerbt. So extravagant der Herzog auch war, bevorzugte er bei der Kunst, die er kaufte, offenbar doch eine klassischere Linie.
»Sie sind spät dran, Albrighton.«
Jonathan drehte sich um. Neben dem Kamin stand Tristan St. Ives, der Duke of Castleford. Die Holzverkleidung der Wand musste eine Geheimtür verbergen.
Castleford schien seinen Rang und Reichtum stets zu verspotten, auch wenn er ihn gleichzeitig sichtlich genoss. Seiner Haltung und Miene waren anzusehen, dass er von der zu erwartenden Unterwürfigkeit bereits jetzt gelangweilt war.
Er war in einen Gehrock gekleidet, der wahrscheinlich Hunderte von Pfund gekostet hatte, und erinnerte mit seiner wilden Mähne brauner Haare und seinen teuflischen, fast goldenen Augen daran, dass ein Herzog wie er tun und lassen konnte, was er wollte.
Soweit Jonathan gehört hatte, schätzte Castleford hauptsächlich das Herumhuren und Saufen. Glücklicherweise schien er an diesem Abend einigermaßen nüchtern zu sein.
»Offenbar bin ich eher zu früh, Eurer Gnaden, nicht zu spät. Im Brief stand, Sie wollten Whist spielen. Die anderen beiden Spieler sind noch nicht hier, außer Sie wollen Ihren Butler und Ihren Stallknecht dazu bitten.«
»Die anderen kommen gegen halb zehn. Sie wurden früher eingeladen.«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Es war nicht meine Absicht, Sie zu ehren.«
»Das versteht sich von selbst.«
»Wenn dem so ist, warum haben Sie es dann gesagt?«
»Um höflich zu sein.«
»Wir sind über solch langweilige Rituale doch längst hinaus, denke ich.«
»Dann habe ich es gesagt, um einen Streit zu vermeiden, bis Ihre anderen Gäste hoffentlich bald eintreffen werden.«
Castleford ließ sich in einen gut gepolsterten Sessel fallen. Seine Haltung blieb lässig, aber sein Blick war wachsam auf Jonathan gerichtet.
Er wäre wohl besser betrunken gewesen, dachte Jonathan.
»Hawkeswell wird zu spät sein. Das ist er immer. Das macht er absichtlich, um zu betonen, dass sein Titel zweihundert Jahre älter ist als meiner und er nicht von mir beeindruckt ist. Summerhays wird wohl am ehesten pünktlich sein, außer natürlich, sie kommen zusammen.«
»Wie nett von Ihnen, uns alle zur gleichen Zeit unter Ihrem prächtigen Dach zu vereinen.«
»Nun, wir hatten vor vielen Jahren unsere gemeinsamen Momente. Und in dieser Angelegenheit im Norden waren wir ebenfalls wieder vereint. Heute Abend wollen wir unseren Erfolg feiern.«
Jonathan hoffte, dass dies nicht wirklich das Ziel des Treffens war. Alle drei hatten angenommen, dass er in einem Auftrag unterwegs gewesen war, als Hawkeswell ihn vor ein paar Monaten zufällig in Staffordshire getroffen hatte. So war es auch gewesen, aber er konnte nicht darüber sprechen. »Ich habe Gerüchte gehört, dass Ihnen das Innenministerium etwas schuldet«, sagte er. »Man sagt, dass die Angelegenheit dank Ihrer Hilfe viel schneller geklärt werden konnte.«
»Dank unserer Einmischung, meinen Sie. Ich nehme an, dass es ohne uns wohl anders ausgegangen wäre. Ich glaube, dass man Sie nicht dorthin geschickt hat, um die Wahrheit herauszufinden, sondern um diese zu verschleiern. Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Sie können denken, was Sie wollen, und das werden Sie auch, ganz egal, was ich sage.«
»Was nichts Nützliches sein wird, wie ich sehe. Wie typisch für Sie. Übrigens hat einer der dort ansässigen Adligen es letzte Woche für angebracht gehalten, sich das Hirn wegzuschießen. Man wird es natürlich anders nennen. Einen Unfall oder so etwas. War das ein letztes Detail, um das Durcheinander zu bereinigen, bevor Sie nach London zurückkehrten, Albrighton?«
»Was immer Sie auch von mir halten mögen, ich bin kein Mörder.«
»Genauso wenig wie Soldaten. Doch am Ende
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