Eine Liebe in Paris
trinken durfte.
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht im Hallenviertel spazieren gehen? Jemand hat mir von dem tollen Ausblick vom
Centre Pompidou
erzählt, und dann könnte ich durch das
Marais
-Viertel wandern, wo das Picasso-Museum ist.« Ich biss in meine
Tartine
, dass die leckere Kruste daran nur so krachte. »Hm, das schmeckt aber gut«, sagte ich, ehe ich vondem heißen Kakao trank. Camille schwieg und stocherte lustlos in ihrer Schale nach einer Weintraube.
»Im
Marais
leben doch viele Künstler, oder?«, fragte ich.
»Wenn sie es sich leisten können, so wie Wolff«, warf Camille ein.
»Ja, so wie Wolff«, sagte Marie. »Hier.« Sie zog an der Küchentheke eine Lade auf und schob mir ein kleines blaurotes Buch zu. »Das ist der Stadtplan von Paris, der
Paris pratique
. Er ist nach den
Arrondissements
unterteilt, also findest du dich ganz leicht zurecht. Das Hallenviertel ist eine gute Idee, aber heute ist es dort sicher wahnsinnig voll. Und auch im
Marais
treten sich am Wochenende die Touristen die Füße platt. Geh doch nach
Montmartre
und
Sacré Cœur
. Dort leben heute viele Künstler.«
»Was macht ihr beide denn?«, fragte ich, denn ich fand den Gedanken, diese Stadt auf eigene Faust zu erkunden, Furcht einflößender, als ich es mir hatte eingestehen wollen oder als ich es irgendjemandem eingestehen wollte. Außerdem war ich müde. So müde, wie ich es selbst nach durchfeierten Nächten noch nicht gewesen war. Es war, als lernte ich in Höchstgeschwindigkeit ein ganz neues Leben kennen, und als hätte mein bisheriges Leben nichts mehr mit dem hier zu tun.
Marie spielte mit dem Kreuz um ihren Hals, das sie jeden Tag zu tragen schien, und überlegte. Sie sah selbst an einem Sonntagmorgen so elegant aus, als sei sie gleich irgendwo eingeladen. Meine Mutter blieb am Wochenende schon aus Prinzip bis zum Mittagessen im Morgenrock.
»Henri ist in der Kanzlei, und ich begleite Camille in ihre Ballettstunde, weil ich mit ihrer Lehrerin sprechen will. Die Aufnahmeprüfung für das
Corps de Ballet
ist kurz vor Weihnachten, also bleibt ihr nicht viel Zeit, um sich zu vervollkommnen.« Sie lächelte Camille aufmunternd an und strich ihr über die Schulter.
»Wie willst du dann noch auf das
Lycée Franco-Américain
gehen? Kannst du das alles schaffen?«, fragte ich Camille.
»Nein. Wenn ich aufgenommen werde, dann wechsele ich auf die
École de Ballet
der
Opéra de Paris
in Nanterre. Dort ist der Unterricht ganz auf die Anforderungen der Oper ausgerichtet und mit dem Vorstellungsplan abgestimmt.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte ich und war über meine eigene Frage erstaunt.
»Wohin?«, fragte Camille und sah mich ebenso erstaunt an.
»Na, in deine Stunde. Darf ich dir beim Tanzen zusehen?«
Camille zögerte, aber Marie antwortete an ihrer Stelle: »Natürlich. Was für eine gute Idee. Und danach kannst du die Stadt erkunden. Ich setze dich auf dem Rückweg an der Metro ab. Von dort aus findest du leicht den Weg nach
Montmartre
.«
Aber ich wollte doch ins Hallenviertel, dachte ich noch, sagte aber nichts.
Sonnenlicht fiel durch die Oberlichter des Ballettstudios im Herzen von Paris nahe der alten Oper, der
Opéra Garnier
, und der goldene Parkettboden schimmerte wie ein Teich, alsCamille in einem hellblauen Body mit einem durchsichtigen Röckchen um ihre Taille an Marie und mir vorbeiwirbelte. Ein Mann begleitete ihren Tanz am Piano. Ich saß am Rand des Raumes, und für mich sah jede ihrer Bewegungen so vollkommen mit dem anderen Mädchen, das neben ihr tanzte, abgestimmt aus, dass ich mir wie ein Bauerntrampel vorkam. Mir würde das nie gelingen. Marie dagegen konnte nicht still stehen und umkreiste Camille gemeinsam mit Madame Sarakowa, der Lehrerin, die offensichtlich ebenfalls eine Ballerina gewesen war, so elegant, wie sie sich bewegte.
»Halt, halt, Camille!«
Der Pianospieler hielt inne und nur die Stimme der Lehrerin hallte durch das Studio. Sie bückte sich, griff Camille bei den Zehen und zog ihr Bein in die Waagerechte.
»Sieh dir deinen Fuß an, Camille, so wird das nichts. Die Spitze muss eine Linie mit den Muskeln des Oberschenkels und des Schienbeins bilden, denn sonst sieht dein Bein aus wie ein Hügel. Es ist immer dasselbe Lied mit dir: Du bist müde und dann lässt du dich gehen. Aber gerade wenn du müde bist, musst du dich zwingen, noch mehr zu erreichen und dein Allerbestes zu geben. Und du sollst dein Bein nicht werfen, sondern den Schritt entwickeln …«
Camille ging
Weitere Kostenlose Bücher