Eine Liebe in Paris
zu.
Als ich am nächsten Morgen herunterkam, war Marie Lefebvre schon gegangen, und Henri bereitete gerade für Camille und mich das Frühstück zu.
»Marie sitzt bereits für Wolff Modell«, erklärte er.
»Jetzt schon?«, fragte ich und sah auf meine Armbanduhr. Es war kurz nach sieben.
»Er hatte heute nur am frühen Vormittag Zeit. Außerdem schätzt er das Morgenlicht«, sagte Henri. »Magst du auch Erdbeermarmelade auf deine
Tartine?
«
Camille murmelte
bonjour
und tunkte ihre gebutterte Baguettehälfte in eine riesige Tasse, in der heiße Schokolade dampfte. Es war klar, dass sie die Schokolade nur trinken durfte, weil Marie nicht da war. Marie hätte ihrer Tochter vermutlich ein Glas Wasser gegeben. Beinahe tat sie mir leid.
Ich nickte. »Ja, gerne.«
Als ich auf einem Hocker an der Küchentheke Platz genommen hatte, sagte ich noch zu Henri: »Tut mir leid wegen gestern, Henri. Ich wusste nicht, dass
huile de chili
Chiliöl heißt. Hat es sehr wehgetan?«
Henri lachte und schmierte sich das letzte Stück Baguette mit Butter. »Mein Mund brennt noch immer, aber mach dir keine Gedanken. Ich habe den ganzen Abend darüber lachen müssen. Camille hätte dir bei der Zubereitung der
Vinaigrette
helfen sollen.«
Camille warf mir aus ihren blaugrünen Augen einen unergründlichen Blick zu. Ich schwieg und tauchte meine
Tartine
ebenfalls so gekonnt wie möglich in die riesige Tasse voll Kakao, die Henri mir hingeschoben hatte. Die
Tartine
schmeckte köstlich.
Auf der Spitze des hohen grauen Gebäudes des
Lycée Franco-Américain
im 15.
Arrondissement
wehten die
Trikolore
und das
Star Spangled Banner
im frischen Herbstwind um die Wette. Wir standen auf dem Bürgersteig gegenüber, und ich wollte gerade meinen Fuß auf den Zebrastreifen setzen, der über die dicht befahrene Straße führte, als Camille mich am Ellenbogen griff und gerade noch zurückriss. Ein Sportwagen raste mit wütendem Hupen an mir vorbei.
»Aber hier ist doch ein Zebrastreifen«, empörte ich mich, während mein Herz vor Schreck schneller schlug. Das war knapp gewesen.
»Das heißt in Paris gar nichts. Du musst immer selber schauen und darfst weder Ampeln noch Zebrastreifen vertrauen, denn die sind hier nur zur Verzierung der Straßen und Bürgersteige da. Die fahren wie die Verrückten auf ihrem eigenen Hinterhof.«
Ich ließ es geschehen, dass Camille einige Atemzüge später meinen Unterarm fasste und mich mit sich über den Zebrastreifen zog.
»Ich habe mal einen kleinen Film von einem jungen Künstler gesehen, in dem eine Katze versuchte, die Straße zu überqueren, als gerade die Fahrer der
Tour de France
durch ihr Bergdorf rasten. Genauso fühle ich mich jeden Morgen«, sagte sie, als wir die Schule betraten. Unter der gewölbten Decke der hohen Eingangshalle roch es nach Staub, Putzmittel und vielen, vielen jungen Leuten – eine Mischung aus Parfum und Schweiß.
Camille begleitete mich noch bis zum Eingang meines Klassenzimmers.
»Hier ist das
College
, eine der letzten beiden Klassen vor dem internationalen Abitur. Der Direktor und meine Mutter fanden, dass du hier altersmäßig am besten hinpasst. Viel Glück, wenn du irgendetwas wissen willst, sehen wir uns ja sicher in der Pause. Also, dann …« Sie drehte sich um und begann, den mit weißem Linoleum ausgelegten Gang hinunterzugehen. Unter den Neonleuchten, die an der Decke brannten, leuchteten ihre nun offenen Haare wie ein Heiligenschein.
»Camille?«
»Ja?« Sie drehte sich noch einmal um und hatte schon den Schlüssel zu ihrem
Locker
, dem Wandschrank, in dem die Schüler ihre Habseligkeiten unterbrachten, in der Hand.
»Wo ist dein Klassenzimmer?«
Sie lächelte. »Nicht weit weg von deinem. Nur da vorn ums Eck, die erste Tür rechts.«
»Danke«, sagte ich, aber nur sehr leise, und ärgerte mich schon, dass ich sie gefragt hatte.
»
Bonjour Monsieur Ducreux and good morning to you
«, sagten die etwa zwanzig Schüler wie aus einem Mund, als der Lehrer unser Klassenzimmer betrat. Ich konnte es kaum fassen: Wenn unser Lehrer in Augsburg in die Klasse kam, hob kaum einer von uns auch nur den Kopf, sondern wir drehten uns mit gequältem Seufzen zum Lehrerpult. Hier standen alle stramm neben ihren Tischen, mit den Händen an der Hosen- oder Rocknaht (ja, wie viele Mädchen hier Röcke trugen!), und warteten, bis dieser Monsieur Ducreux erwiderte: »
Bonjour à tous and good morning everybody
.«
Erst dann setzten sie sich ordentlich auf ihren Platz, während
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