Eine Liebe wie Magie
zweite Nacht nach ihrem Tod gewesen, als Augustas Vater seine Tochter mit auf den Dachfirst ihres Hauses auf dem Lande nahm. Seine Tochter fest an sich gedrückt, hatte er auf den sternenübersäten Nachthimmel gezeigt.
»Dort, Augusta Elisabeth«, hatte er zu ihr gesagt, »dort von diesem Stern aus sieht dir deine Mutter jetzt zu anstatt vom
Fenster. Wann immer du sie brauchst, kannst du zu ihrem Stern aufschauen, sie wird für dich dasein.«
Und in diesem Augenblick schien ein einzelner Stern heller zu leuchten als alle anderen, glitzernd, als ob er die Worte des Vaters bestätigen wollte. Und wenn Augusta in den Nächten nach dem Tod ihrer Mutter vor Alpträumen nicht schlafen konnte, war sie an ihr Fenster gegangen, um eben diesen Stern zu suchen und Trost zu finden in dem Wissen, daß ihre Mutter immer noch in der Nähe war und ihr zusah, wie ihr Vater gesagt hatte. Sechs Wochen nach Mariannes Tod hatte der Marquis den Botschafterposten angenommen und mit seiner kleinen Tochter England verlassen. Auf dem offenen Meer schien man das Hinscheiden der geliebten Person irgendwie leichter ertragen zu können. Doch gleichgültig, wo sie sich in jedem darauffolgenden Jahr auch befanden, am achtundzwanzigsten April gingen Augusta und ihr Vater zusammen zu ihrem besonderen »Marianne«-Stern, um sich ihrer zu erinnern, um mit ihr zu sein, um ihre sanfte Seele zu spüren.
Augusta erhob sich vom Tisch und durchquerte den Raum bis zu der Stelle, wo das Porträt ihrer Mutter hing, nicht mehr über dem Kamin, sondern seit Charlottes Ankunft in eine dunklere Ecke verbannt.
Vorsichtig zog Augusta die Vorhänge vom Fenster auf, um besser sehen zu können. Sanfte Augen, dasselbe dunkle Grün wie ihre eigenen, blickten zärtlich von der Leinwand auf sie herab. Mariannes Haar war kastanienbraun gewesen unter dem Puder, den sie für das Porträt aufgetragen hatte, leicht gelockt reichte es bis zur Mitte des Rückens, wenn ihr Dienstmädchen es bürstete. Das Kleid, das sie trug, mit seinen weiten Reifröcken und enger Taille, über dem Mieder mit feinen Zierknoten bestückt, hatte ihre Lieblingsfarben, grün und violett. In der Hand hielt sie ein schmales Buch mit Gedichten, das mit einem roten Band verziert war. Aus diesem Buch hatte sie ihrer kleinen Tochter oft vorgelesen.
»Vergib mir, Mutter«, flüsterte Augusta und schloß die Augen, um nicht zu weinen.
Kurze Zeit später kehrte Augusta an den Teetisch zurück. Sie nahm den Brief, las ihn aber nicht zu Ende, sondern faltete ihn zusammen und legte ihn beiseite, um sich ihm später zu widmen. Sie sah auf und bemerkte, daß Tiswell sie beobachtete, und seine Augen waren voller Sympathie und Verständnis. Rücksichtsvoll schwieg er, da er doch ihr Bedürfnis nach Stille erkannt hatte. Statt dessen reichte er ihr einfach eine Tasse Tee.
Nach einigen Augenblicken sagte Augusta: »Wo ist Lady Trecastle hingegangen?«
Tiswell plazierte einen kleinen Teller mit Gebäck und Konfekt zwischen ihnen auf dem Tisch.
»Ich glaube, Ihre Ladyschaft deutete an, daß sie auf dem Weg zu ihrem Schuhmacher sei, um die neuen Schuhe abzuholen, die sie für den Lumley-Ball bestellt hat.«
Augusta runzelte die Stirn, während sie in ein Erdbeertörtchen biß. »Ja, das Ereignis der Saison. Gerade neulich morgens hat sie versucht, mich breitzuschlagen, sie zu begleiten.«
Tiswell nahm ein Schlückchen Tee. »Sie wissen, daß das eigentlich gar keine schlechte Idee ist, Mylady?«
Augusta starrte den Butler an und fragte sich, ob er sich nicht vielleicht einen Schnaps in den Tee gekippt hatte, denn noch nie hatte er Charlottes merkwürdigen Einfällen zugestimmt. Niemals. »Tiswell?«
Der Butler schüttelte sein kahles Haupt — er trug keine Perücke wie so viele seiner Kollegen, was sein würdevolles Auftreten nur noch unterstützte - und sagte: »Ziehen Sie folgendes in Betracht, Mylady: Wie wäre es, wenn Sie mit der Marquise einen Handel eingingen?«
»Einen Handel? Mit Charlotte?« Eine interessante Vorstellung.
»Gab es in letzter Zeit nicht immer wieder Gelegenheiten, bei denen sie versuchte, Sie mit jungen Männern bekannt zu machen? Heiratsfähigen jungen Männern?«
Augusta beobachtete ihn, wie er seinem Tee einen Schuß Sahne beifügte. »Fahren Sie fort.«
»Nun, ich dachte mir, wie wäre es, wenn Sie nicht nur zustimmten, den Lumley-Ball mit ihr zu besuchen, sondern vielleicht auch jede Woche Ihre Ladyschaft auf einige ihrer Einladungen begleiteten. Zwei oder drei
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