Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Nation. Ob man will oder nicht, wir sind doch alle davon abhängig, dass das Kollektiv, zu dem wir gehören, in der Welt und vor uns selber einen gewissen Wert hat. Kann man diese Verluste eines kollektiven Werts und deren Verarbeitung mit individuellem Verlust und dessen Folgen vergleichen? Ich glaube, ja.
Kollektive Trauer der Deutschen hätte bedeutet, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen, das, da das Verdrängen des Vergangenen Vorrang hatte, nie entstehen konnte. Nach der vernichtenden Niederlage waren die Deutschen zentral in ihrem Selbstwert getroffen. Die Abwehr des Erlebnisses einer melancholischen Verarmung des Selbst war daher zunächst die dringlichste Aufgabe der Psyche. Eine in ihrem Wahn bloßgestellte, der furchtbarsten Verbrechen überführte Bevölkerung, die sich im weitesten Sinne des Wortes von Traumata und Zerstörung umgeben sah, war so geschockt, dass sie sich zunächst nur um sich selber kümmern konnte. Die Naziperiode wurde derealisiert, sie verschwand wie ein Traum. Natürlich ist der Versuch, sich von der quälenden Erinnerung an Schuld und Scham abzusetzen, ein allgemeines menschliches Bedürfnis. So ist auch die Unfähigkeit zur Trauer um den Verlust eines kollektiven Ich-Ideals das Ergebnis einer Abwehr von Schuld, Scham und Angst. Zu einem Problem wird dieser Sachverhalt erst dadurch, dass auch in den Jahrzehnten nach Kriegsende, bis heute keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unseren Wahn und unsere Taten in Massen getötet wurden. Die Fähigkeit zu trauern würde bedeuten, sich zu erinnern und schmerzlichen Abschied zu nehmen von dem, was wir geliebt und verloren haben.
Die Verarbeitung von Verlusten kann auf unterschiedliche Weisen geschehen. Freud hat diesbezüglich zwischen Trauer und Melancholie unterschieden, um nur zwei Verarbeitungsmöglichkeiten zu erwähnen. Wenn es um den Verlust des Selbstwerts eines Volkes geht – und darum handelt es sich ja bei der kollektiven Trauer –, besteht die Gefahr, dass über der Verzweiflung, der Melancholie, der alle verfallen, auch der kollektive Halt verloren geht. Es hat ja nicht jeder persönliche Schuld auf sich geladen. Das Gros der Deutschen hat nicht persönlich Juden umgebracht, hat sich vielleicht nur nicht abgewendet, als in der Kristallnacht, was damals schon jeder Mensch sehen konnte, Juden auf die Straße gezerrt, Geschäfte geplündert und unschuldige Menschen misshandelt wurden. Die Deutschen sind als Soldaten in den Krieg gezogen, wer sich wehrte, hatte keine Chance. Vielleicht sind sie sogar begeistert in den Krieg gezogen, wenngleich die Begeisterung sehr viel geringer war als zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Sich an seine Verhaltensweisen, an seine Ideale, an seinen Hitlerwahn zu erinnern angesichts eines total verlorenen Krieges, angesichts von Auschwitz, von zerbombten Städten, des Verlusts der kollektiven »Ehre«, wie sollte man da in der unmittelbaren Schocksituation nach dem Krieg die seelische Kraft aufbringen, sich Reaktionen der Trauer gemeinsam zu stellen? Warum aber nicht später, nachdem es den Menschen viel besser ging? Tatsache ist, dass sich mit dem Wirtschaftswunder Verdrängung und Verleugnung eher noch verfestigten und die Unfähigkeit zu trauern unübersehbar wurde.
Eine deutsche Art zu lieben
Was das Buch berühmt gemacht hat, war das erste Kapitel mit der Überschrift »Die Unfähigkeit zu trauern – womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben«. Für die Entwicklung einer kollektiven Unfähigkeit zu trauern ist eine deutsche Art zu lieben Voraussetzung: nämlich nur lieben zu können, wenn man vorher einen Menschen (den Führer!), eine Sache, eine Nation idealisiert hat. Bei der Trauer um die Naziperiode kann es nicht nur um den gemeinsamen Verlust kollektiver Selbstachtung gegangen sein, sondern es waren der Hitlerwahn und die kollektive Selbstüberhöhung unter Verlust von Menschlichkeit überhaupt, was uns unfähig machte, uns mit den Opfern zu identifizieren und sie zu schützen. Dieser Ausfall an Mitgefühl, den wir bis heute immer wieder beobachten, ist psychologisch doppelt begründet. Die Ideologie der Nazis wird zwar seit 1945 offiziell abgelehnt. Das bedeutet aber nicht, dass man eine sichere innere Distanz zu ihr gefunden hätte. Dazu hätte man sich ganz anders mit diesen »Idealen« und ihrer Herkunft auseinandersetzen müssen. So haben sich Teilstücke dieses Weltbildes voller Verirrungen vor
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