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Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Titel: Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarete Mitscherlich
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allem deshalb erhalten, weil sich weder die erste noch die nachfolgenden Generationen ihrer direkten oder vermittelten Schuld stellten, sondern alle ihre Energie in den Dienst des Abwehrens von Schuldgefühlen stellten.
    Wir haben uns mit unserer Erklärung dieses Verlaufs weitgehend an Freuds Aufsatz über Massenpsychologie und Ich-Analyse [93] gehalten. Das heißt, die Mitglieder eines bestimmten Kollektivs identifizieren sich mit Hilfe einer gemeinsamen Heldenfigur untereinander. Der »Führer« fungiert als ihr gemeinsames Ich-Ideal. Von der Verpflichtung diesem gemeinsamen Ideal gegenüber durfte keiner sich lösen, das war Verrat und damit sein Ende. Hierin äußert sich die eindeutig religiöse Seite dieser Naziideologie, wie vielleicht jeder Ideologie. Bei den Franzosen, Engländern, Dänen, die keine »verspäteten Nationen« [94] waren, hatten sich wohl mit Hilfe langwieriger Identifizierungen und aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Helden und Ideale, ihrer alltäglichen Werte gemeinsame Gefühls- und Denktraditionen gefestigt, in denen man so etwas wie Volkscharaktere erkennen mag.
    Deutschland, die verspätete Nation, litt immer unter Selbstwertproblemen, verstärkt durch den verlorenen Ersten Weltkrieg. Im 17. und 18. Jahrhundert, bevor Deutschland Nationalstaat wurde, legten wir auf Kultur und Menschlichkeit großen Wert. Wir hatten die größten Philosophen, die wunderbarsten Musiker, große Dichter. Dichter, Denker und Musiker pflegen jedoch keinen Völkermord zu predigen, sondern Menschlichkeit. Mit dem aufkommenden Nationalismus gewannen andere Werte Einfluss. Heroismus, nicht Humanität stand ganz oben auf der Werteskala. Alles, was sich mit Krieg und Sterben verband, was das Vaterland zu Macht und Glanz verhalf, wurde hochgeschätzt. Nationalisten mit ihren Idealisierungen und Verteufelungen liegt das viel näher. Sie deklarieren sich ohne Umschweife, wie wir das erlebten, zur Herrenrasse, die mit anderen als »unwert« erklärten »Rassen« je nach Belieben und Wertvorstellungen verfahren darf.
    Man brauchte, um zusammenzuhalten, offenbar einen gemeinsamen Feind, auf den man alles Böse, allen Selbsthass projizieren konnte. Gut, der Antisemitismus hat eine sehr komplizierte Geschichte, und ihn gab und gibt es nicht nur in Deutschland. Aber das Bedürfnis, sich zu idealisieren, war in der »verspäteten Nation« als Abwehr gegen Minderwertigkeitsgefühle besonders stark. Entsprechend mussten andere entwertet werden. Ist einem Volk das gelungen und hat es den vergötterten Führer erschaffen, der solche Bedürfnisse und Ressentiments zu nationalen Tugenden erklärt, die allein Deutschland retten würden, dann kommt es zu einer kollektiven Gestimmtheit, die den Hintergrund bietet, vor dem selbst Völkermord möglich wird. Jeder Krieg ist eigentlich ein Massenmord. Beim Völkermord durch die Deutschen wurde ein jeder, ob Mann, Frau oder Kind, als »lebensunwert« erklärt; sie gehörten einer Rasse an, die es zu vernichten galt, die Schuld an allem Übel in der Welt hatte. Keiner hatte eine Chance, sich gegen diese absolute Übermacht zu behaupten.
    Der autoritäre Charakter des »Nach unten treten, nach oben buckeln« mag als Folge der erniedrigenden Gehorsamkeitsdressur das Seine beigetragen haben. In einer autoritären Gesellschaft, in der immer einer oben ist und einer unten, gibt es sehr viel Erniedrigung. Die resultierende Selbstverachtung muss durch Entwertung anderer, möglichst Schwacher einerseits und andererseits totale Idealisierung von Personen, die vom Alltag möglichst weit entfernt sind, ausgeglichen werden. Unter Hitler war der Sadomasochismus ein nicht zu übersehender Charakterzug vieler Deutscher. Ohne Hitler und seine Führung, der man sich hierzulande mit so viel Begeisterung unterwarf, wäre Völkermord sicherlich nicht möglich gewesen. Mit der deutschen Art zu lieben war eine Liebe gemeint, die an die Bedingung geknüpft ist, das Objekt der Liebe idealisieren zu können. Ambivalenz der Gefühle war nicht tragbar; jemanden zu lieben, dessen Schwächen und Fehler sichtbar waren, schien kaum machbar. Hitler durfte z.B. nicht heiraten, keine Frau lieben, er musste, abgesichert durch gottähnliche Eigenschaften und Wunderglauben, das abgehobene Ideal bleiben, das die Deutschen aus ihm machten, musste sich in seinen Ressentiments völlig dem Volk anpassen, durfte keine menschlichen Bedürfnisse zeigen. Niemand durfte sich kritisch über den Führer äußern, und wer es doch tat, war

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